Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

DOI Heft:
I. Teil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Kurth, Betty: Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0066
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
54 Betty Kurth.

de haute lisse» aus dem Anfang des XIV. Jahrhunderts erhalten,1 aber kein einziges "Werk aus so
früher Zeit vermag uns die verstaubten Schriftquellen zu lebendiger Anschauung zu erwecken.

In der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts tauchen bereits in mehreren französischen und
flämischen Städten Hautelisse-Werkstätten auf, enggefügte Verbände, die einen durch Zunftordnun-
gen und -Gesetze streng systemisierten Betrieb entfalten. Zu größerer Bedeutung und maßgebendem
Einfluß sind jedoch in dieser und der unmittelbar folgenden Zeit nur drei Zentren gelangt: Paris,
Arras und Tournai.2

Das früheste erhaltene Werk französischer Bildwirkkunst, die Apokalypse in der Kathedrale von
Angers,3 deren hohe technische Vollendung eine vorangehende reiche, in ihren Zwischenstufen nicht
mehr verfolgbare künstlerische Entwicklung vorauszusetzen gestattet, entstammt dem Atelier des
Nicolas Bataille zu Paris.4 Das textile Wunderwerk, von dem 67 Bilder und einige Fragmente
erhalten sind, — es bestand ursprünglich aus 7 Teilen mit je 15 Bildern — wurde laut über-
lieferter Rechnungen im Auftrage Ludwigs I. von Anjou, des Bruders Karls V., zwischen 1375 —1379
in der genannten Werkstatt ausgeführt. Die Kartons oder Patronen hat Jean oder Hennequin de
Bruges, der Hofmaler Karls V., entworfen,5 der, wie restlos nachgewiesen wurde, Miniaturen als
Vorlage benützte.6 Jean de Bruges war übrigens selbst, wie Guiffrey mit beweiskräftigen Gründen
darlegt,' auch als Miniaturmaler tätig. Nicht allein in der künstlerischen Gesamtautfassung sondern
auch in der Detailbehandlung, im Typenschatz, in Faltengebung und Formbildung können die
gewirkten Bilder ihre Abstammung von der Miniaturmalerei nicht verleugnen. Und es ist als be-
sonders bezeichnend für den auf geistigen Inhalt und naturalistische Probleme eingestellten Zeit-
geschmack anzusehen, daß die Textilgemälde so wie auch die gotischen franko-flämischen Tafel-
malereien nicht eine Fortsetzung der monumentalen Freskokunst bedeuten sondern aus der sich
damals zu höchster Blüte entwickelnden Miniaturmalerei emporgewachsen sind. Die Erscheinung ist
auch auf die Teppichkunst des folgenden Jahrhunderts nicht ohne stilbestimmenden Einfluß geblieben.

Der Apokalypse von Angers steht eine französische Bildwirkerei mit der Darstellung im
Tempel, die früher im Besitze des spanischen Malers Escosura war und jetzt im Musee du Cin-
quantenaire zu Brüssel bewahrt wird,8 unmittelbar nahe. Nicht nur in Stil und Technik sondern
auch in der Typik der überschlanken Figuren, in den welligen Faltenzügen, in der Wolkenbildung
und Hintergrundrankenfüllung erscheinen die Ubereinstimmungen der beiden Werke so groß, daß
an eine Identität der Werkstatt wohl gedacht werden muß. Und in der Tat entnehmen wir den
überlieferten Quellen, daß der Herzog von Anjou im Jahre 1379 unter anderem auch einen Teppich
mit Darstellungen aus dem «Leben der Jungfrau» im Atelier Nicolas Batailles anfertigen ließ.9
Sollten wir in dem Streifen in Brüssel nicht ein Fragment jenes Werkes zu erkennen haben? Wenn

1 Gaston Migeon, Les Arts du Tissu, Paris 1909. — W. G. Thomson, A history of Tapestry, London 1906.
1 Von untergeordneter Bedeutung scheinen die Werkstatten von Valenciennes, Ypres, Lille, Douai, Gent, Audenarde,
Aubusson u. a. gewesen zu sein.

3 Louis de Farcy, Monographie de la cathedrale d'Angers: Le Mobilier, Angers 1901.

4 Jules Guiffrey, Nicolas Bataille, tapissier parisien du XIV» siecle, sa Tie, son Oeuvre et sa famille, Paris 1884. Vgl.
auch Memoires de la Societe de l'histoire de Paris et de l'lle de France, Tome X, und Jules Guiffrey, L'auteur de la tapisserie
de l'Apocalipse d'Angers: Memoires de la Societe nationale des antiquaires de France, Tome XXXVIII, p. 42.

5 In den von Guiffrey (Nicolas Bataille etc.) publizierten Rechnungen heißt es unter anderem: «A Hennequin de Bruges,
paintre du Roy notre Seigneur, sur ce qui lui peut ou pourra estre deu ä cause des pourtraitures et patrons par lui faiz
pour lesdiz tapiz ä l'istoire de l'Apocalice etc.» Vgl. auch Ie Chanoine Deshaisnes, L'histoire de l'art dans la Flandre,
l'Artois et le Hainaut, Lille 1886, Tome II, p. 556.

' A. Giry, La tapisserie de l'Apocalypse d'Angers: L'Art 1876. — Maxence Petit, Les apocalypses manuscrites du
moyen äge et les tapisscries d'Angers: Le moyen-äge 189G. — L. Delisle et P. Meyer, Les manuscrits de I'apocalypse: Societe
des anciens textes francais 1901.

; Bulletin de la Societe nationale des antiquaires de France, Tome XL, p. 184.

8 Joseph Destree, Tapisseries des Musees Royaux du Cinquantenaire a Bruxelles, Bruxelles 1910, PI. 1. — Gaston
Migeon, a. a. O., p. 194, abg. p. 191.

* Jules Guiffrey, Eugene Müntz et A. Pinchart, Histoire generale de la tapisserie, I. Tapisseries francaises, p. 14. —
Jules Guiffrey, L'auteur de la tapisserie de l'Apocalypse d'Angers: Memoires de la Societe nationale des antiquaires de
 
Annotationen