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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Kurth, Betty: Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0073
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Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof.

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Auf weit größere Schwierigkeiten als die chronologische Fixierung stößt der Versuch einer
lokalen Einordnung. Hier lassen uns fast alle sonst erprobten Hilfsmittel im Stich. Zeitgenössische
Tafelbilder, die als Vergleichsmaterial dienstbar gemacht werden könnten, gibt es nur wenige. Und
die Miniaturen, die in Anbetracht ihrer nahen stilistischen Beziehungen die besten Bestimmungs-
kriterien geboten hätten, harren selbst noch einer gründlichen Bearbeitung und regionalen Ein-
teilung.

Wohl geben uns die Inschriften einen Fingerzeig, die nicht allein in pi kardischer Mundart
verfaßt sind, sondern sogar —■ wie ein Vergleich mit den von Soil publizierten Urkunden lehrt1 —
charakteristische Eigentümlichkeiten des Tournaiser Idioms aufweisen. So erscheint c statt ch in
capiaux und capu., mieus statt mieux, biaux statt beaux, afulerai statt afublerai etc. Allein wir
dürfen die Inschriften, die ja ihrerseits nach einer Handschrift kopiert sein können, nur als sekun-
däres Bestimmungsmittel gelten lassen und sehen uns somit einzig auf den Vergleich der wenigen
erhaltenen Tapisserien der anschließenden Zeit angewiesen. Durch deren Heranziehung scheint der
einzig mögliche Weg zu einer Lösung der Lokalisierungsfrage gegeben.

* *
*

Die größte Verwandtschaft mit dem Wiener Stück haben die in der kunstgeschichtlichen
Literatur viel zu wenig gewürdigten wunderherrlichen Bildteppiche des Herzogs von Devonshire
im South-Kensington-Museum zu London (Taf. V, VI, Fig. 2, 3).2 Mr. Arthur Strong, librarian des
House of Peer, hat die vier Tapisserien, die pietätlos für die Prokrusteswand einer fensterdurch-
brochenen Schloßmauer zurechtgeschnitten waren, vor mehreren Jahren auf der Besitzung des Her-
zogs, Hardwicke Hall, entdeckt. Die mißhandelten Stücke wurden sorgfältig zusammengesetzt,
einer gründlichen. Restaurierung unterzogen und sind gegenwärtig im South-Kensington-Museum der
allgemeinen Besichtigung zugänglich.

Die Teppiche, die zu den bedeutendsten Produkten der Bildwirkkunst gehören, sind von außer-
ordentlicher Größe, beiläufig 4 m 25 cm hoch und 11—12 m lang, in bunter Wolle ohne Seide
und Goldfäden gewirkt. Sie führen uns in reichbewegter Mannigfaltigkeit die verschiedensten
Arten höfischen Jagdvergnügens vor Augen: Bären- und Eberjagd, Jagd auf wilde Schwäne, Enten,
Falken und Rehe, sogar eine Otternjagd wird uns mit gegenständlicher Eindringlichkeit veranschau-
licht. Es wurde nicht zu Unrecht an das Jagdbuch des Gaston Phöbus erinnert,3 dessen Miniaturen
uns gleichfalls ein bildliches Repertorium der verschiedensten Jagdmethoden bieten. Die Möglichkeit
des Einflusses einer Phöbus-Handschrift scheint durch den Stil der Tapisserien nicht widerlegt zu
werden. Wie sehr im allgemeinen die Miniaturmalerei auf den Stil dieser Teppichentwürfe gewirkt
hat, bestätigt ein Blick auf das Kalenderbild des Mai in den Tres Riehes Heures des Herzogs
von Berry (Fig. 4).

Ein Vergleich der Devonshire-Teppiche mit dem Wiener Fragment läßt eine Reihe enger
stilistischer und technischer Beziehungen erkennen. In den Typen, der Faltengebung, in der Art,
wie die Augen gezeichnet, die Gesichter modelliert, die Hände geformt und bewegt sind, herrscht
ebenso Übereinstimmung wie in der völlig unklaren und unsicheren Lichtführung oder in der Be-
handlung des Rasengrundes, der durch das Zusammenwirken stilisierter Grasbüschel und naturali-
stischer Blüten und Blattformen, die in den Einzelheiten fast identisch sind, sein charakteristisches
Gepräge erhält. Auch die Farbenskala und die technischen Details zeigen mannigfache Ver-
wandtschaft.

Weisen somit die besprochenen allgemeinen Ähnlichkeiten auf eine Gemeinsamkeit des Ent-
stehungsortes, so erscheinen dagegen die Londoner Teppiche in der reicheren Figurenanordnung,

1 Eugene Soil, Les tapisseries de Tournai, Tournai 1892.

2 W. G. Thomson, The Hardwicke Hunting-Tapestries: The Art Workers Quarterly 1902 und 1904. — Idem, A Hi-
story of Tapestry, London 1906. — A. W. de P. Angleterre: Revue de l'art chretien 1902, p. 493.

3 Ebenda.

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