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Jedlicka, Gotthard [Bearb.]; Matisse, Henri [Ill.]
Henri Matisse - La Coiffure — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 107: Stuttgart: Reclam, 1965

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https://doi.org/10.11588/diglit.62835#0040
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wartete und gefürchtete Samstag der Korrektur. Schon
einige Tage vorher befiel manchen die Verzweiflung, wenn
er die Ölfarbenkruste betrachtete, die das zeichnerische
Gerüst überwuchert hatte, und man sah Kohle in nervö-
sen Händen, die sich den schwarzen Weg durdi die
Farbe bahnte, um das Konstruktive wiederherzustellen
... Vielleicht hatte auch der Eintritt Matisses in das
Atelier genügt, daß sie, momentweise mit seinen Augen
sehend, die Fehler entdeckten. - Ein Außenstehender
hätte an dem mittelgroßen Mann mit rötlichem Haar
und Vollbart, dessen Augen ruhig durch eine goldgeran-
dete Brille blickten, vergeblich ein Anzeichen der Kraft
gesucht, die so viele Menschen in ihren Bann zu bringen
vermochte. Da war so gar nichts von „Dämonie“, nicht
das geringste an Pathetik oder Auftritt. Es war auch
nicht einmal die blendende Gloriole eines großen
Ruhms - denn, wie gesagt, selbst im Kreise der Nahe-
stehenden lebte noch viel Widerspruch, viel Kritik. Die
Kraft kam von innen. Wenn er zu blicken und zu spre-
chen begann, dann wirkte dieser Künstlermensch — und
nicht nur auf die Maler - durch eine Art Hellsicht, mit
der er ein Stüde Natur oder ein Stüde Kunst gleichsam
in die Hände nahm und mit schlichten Worten durch-
leuchtete, ohne gallische Rednerpose oder pomphafte
Dunkelheit. Nun ging er durch die Staffeleien. Niemand
arbeitete, gespannt hörte im Halbkreis alles zu, hinten
standen sie auf Stühlen. Einige hielten sich bereit, als
Dolmetscher einzugreifen, was häufig nötig wurde.
Strenge, bestimmt und doch mit ungemeinem Takt
äußerte er sich, selbst die ganz niederschmetternden
Dinge brachte er in eine höfliche Form, so daß der Be-
treffende es oft erst hinterher bemerkte. Denn wenn er
nun so direkt neben einem stand, daß man die schöne,
denkerischc Stirn und den darunter hervordringenden,
sachlich forschenden Blick als etwas ganz Nahes und im
Augenblick ausschließlich für einen selbst Daseiendes
empfand, hatte man ein warmes Vertrauen zu den hel-
fenwollenden Kräften dieses Mannes, und keinen Rest
jenes natürlichen Gegnergefühls dem „Lehrer“ gegen-
über, auch, wenn man mit seinen Aussetzungen und

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