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PERGAMENISCHE GIGANTOMACH1E
Anschauungen nur dadurch gelangen, dass wir die verschiedenartigen Erscheinungen
nicht untereinander mischen, sondern so viel wie möglich kritisch auseinanderhalten.
Die Vermittelungen und Uebergänge werden sich später von selbst ergeben.
In den bisherigen Erörterungen handelte es sich um allgemeine Thatsachen,
aber noch keineswegs um eine künstlerische Würdigung der neuentdeckten Skulp-
turen. Zum Zwecke einer solchen müssen wir die Monumente selbst ins Auge fassen,
wobei wir uns jedoch nicht durch mehr oder weniger subjektive Eindrücke be-
stimmen lassen dürfen. Im Gegenteil, je gewaltiger, wie im vorliegenden Falle, diese
Eindrücke auf uns einstürmen, um unser Urteil gefangen zu nehmen, um so mehr
sollen wir uns der Bedingungen bewusst bleiben, auf deren Grundlage erst ein un-
befangenes objektives Verständnis zu erwachsen vermag. Denken wir uns einem
neuentdeckten Schriftwerke der antiken Literatur gegenüber, so würde es selbstver-
ständlich erscheinen, dass wir zur richtigen Würdigung desselben ausgingen von der
einfachen Wortbedeutung, von den Formen und syntaktischen Verbindungen der
Worte zum Satze, dass wir fortschritten zu der Fügung der Perioden und der
rhetorischen Gliederung der grösseren Abschnitte, und so immer höher aufstiegen zu
dem geistigen Inhalt und der künstlerischen Gestaltung des Ganzen in der gegen-
seitigen Durchdringung von Inhalt und Form. Zum Verständnis des Kunstwerks
führt der gleiche Weg: auch hier haben wir mit der analytischen Betrachtung des
Einzelnsten zu beginnen, den Wert der einzelnen Formen für sich und in ihrer Ver-
bindung zu ganzen Gestalten, die Verbindung der Gestalten zu Gruppen zu prüfen,
um schliesslich zur Idee des Ganzen in seiner durch die Bestimmung des Monumentes
bedingten poetischen und künstlerischen Ausgestaltung durchzudringen. Der fort-
währende vergleichende Blick auf verwandte oder abweichende Erscheinungen hat
dabei ergänzend und unterstützend mitzuwirken, um einen sichern Massstab zur
schliesslichen Beurteilung des Ganzen nach seiner künstlerischen und historischen
Bedeutung zu gewinnen.
Der Ruf der pergamenischen Skulpturen ist bereits so weit verbreitet, dass bei
jedem, der überhaupt der antiken Kunst ein gewisses Interesse entgegenbringt, eine
allgemeine Bekanntschaft mit ihnen vorausgesetzt werden darf. Es ist daher nicht
nötig, hier auf die Geschichte ihrer Entdeckung, auf die mit ihrer Auffindung ver-
bundenen besonderen Umstände nochmals einzugehen, und ebenso darf von einer
Beschreibung der Figuren und Gruppen nach ihrer mythologischen Bedeutung hier
abgesehen werden. Es genügt, auf die beiden grösseren aktenmässigen Berichte in
dem Jahrbuche der Königl. Preuss. Kunstsammlungen zu verweisen und ausserdem
zu bemerken, dass die im Folgenden angewendeten Buchstabenbezeichnungen der
Gruppen denen in der offiziellen kurzen „Beschreibung der pergamenischen Bildwerke"
(sechste Aufl. i883) entsprechen.
Indem wir uns jetzt zur analytischen Prüfung der Formen wenden, beginnen
wir mit der Betrachtung einiger rein stofflicher Dinge, bei deren Darstellung das
künstlerische der Auffassung dem Anschein nach weniger in Betracht kommt. Es
zeigt sich hier sofort, dass eine mathematisch genaue Wiedergabe eines Gegenstandes
und eine künstlerische Darstellung desselben sich keineswegs decken. An den Innen-
seiten der Schilde der Athene und des Gegners der Artemis, den man sich als Orion
zu bezeichnen gewöhnt hat, sind die runden Reifen mit derselben mechanischen
PERGAMENISCHE GIGANTOMACH1E
Anschauungen nur dadurch gelangen, dass wir die verschiedenartigen Erscheinungen
nicht untereinander mischen, sondern so viel wie möglich kritisch auseinanderhalten.
Die Vermittelungen und Uebergänge werden sich später von selbst ergeben.
In den bisherigen Erörterungen handelte es sich um allgemeine Thatsachen,
aber noch keineswegs um eine künstlerische Würdigung der neuentdeckten Skulp-
turen. Zum Zwecke einer solchen müssen wir die Monumente selbst ins Auge fassen,
wobei wir uns jedoch nicht durch mehr oder weniger subjektive Eindrücke be-
stimmen lassen dürfen. Im Gegenteil, je gewaltiger, wie im vorliegenden Falle, diese
Eindrücke auf uns einstürmen, um unser Urteil gefangen zu nehmen, um so mehr
sollen wir uns der Bedingungen bewusst bleiben, auf deren Grundlage erst ein un-
befangenes objektives Verständnis zu erwachsen vermag. Denken wir uns einem
neuentdeckten Schriftwerke der antiken Literatur gegenüber, so würde es selbstver-
ständlich erscheinen, dass wir zur richtigen Würdigung desselben ausgingen von der
einfachen Wortbedeutung, von den Formen und syntaktischen Verbindungen der
Worte zum Satze, dass wir fortschritten zu der Fügung der Perioden und der
rhetorischen Gliederung der grösseren Abschnitte, und so immer höher aufstiegen zu
dem geistigen Inhalt und der künstlerischen Gestaltung des Ganzen in der gegen-
seitigen Durchdringung von Inhalt und Form. Zum Verständnis des Kunstwerks
führt der gleiche Weg: auch hier haben wir mit der analytischen Betrachtung des
Einzelnsten zu beginnen, den Wert der einzelnen Formen für sich und in ihrer Ver-
bindung zu ganzen Gestalten, die Verbindung der Gestalten zu Gruppen zu prüfen,
um schliesslich zur Idee des Ganzen in seiner durch die Bestimmung des Monumentes
bedingten poetischen und künstlerischen Ausgestaltung durchzudringen. Der fort-
währende vergleichende Blick auf verwandte oder abweichende Erscheinungen hat
dabei ergänzend und unterstützend mitzuwirken, um einen sichern Massstab zur
schliesslichen Beurteilung des Ganzen nach seiner künstlerischen und historischen
Bedeutung zu gewinnen.
Der Ruf der pergamenischen Skulpturen ist bereits so weit verbreitet, dass bei
jedem, der überhaupt der antiken Kunst ein gewisses Interesse entgegenbringt, eine
allgemeine Bekanntschaft mit ihnen vorausgesetzt werden darf. Es ist daher nicht
nötig, hier auf die Geschichte ihrer Entdeckung, auf die mit ihrer Auffindung ver-
bundenen besonderen Umstände nochmals einzugehen, und ebenso darf von einer
Beschreibung der Figuren und Gruppen nach ihrer mythologischen Bedeutung hier
abgesehen werden. Es genügt, auf die beiden grösseren aktenmässigen Berichte in
dem Jahrbuche der Königl. Preuss. Kunstsammlungen zu verweisen und ausserdem
zu bemerken, dass die im Folgenden angewendeten Buchstabenbezeichnungen der
Gruppen denen in der offiziellen kurzen „Beschreibung der pergamenischen Bildwerke"
(sechste Aufl. i883) entsprechen.
Indem wir uns jetzt zur analytischen Prüfung der Formen wenden, beginnen
wir mit der Betrachtung einiger rein stofflicher Dinge, bei deren Darstellung das
künstlerische der Auffassung dem Anschein nach weniger in Betracht kommt. Es
zeigt sich hier sofort, dass eine mathematisch genaue Wiedergabe eines Gegenstandes
und eine künstlerische Darstellung desselben sich keineswegs decken. An den Innen-
seiten der Schilde der Athene und des Gegners der Artemis, den man sich als Orion
zu bezeichnen gewöhnt hat, sind die runden Reifen mit derselben mechanischen