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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0045
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Neben der Unterhaltung ging es um die Erziehung des Menschen, denn das Theater war eine
»vortreffliche Schule des Geschmacks, der Sittlichkeit und der ästhetischen Ausbildung des
Menschen«.9 Auch die Schauspielkunst - vor der Mitte des 18. Jahrhunderts kein Thema
eigener theoretischer Betrachtungen - überdachten nun erstmals Theoretiker wie Sainte-Albine,
Riccoboni, Diderot, Marmontel oder Mercier.10 Das Primat der Handlung wurde nun - ana-
log zu den viel diskutierten Körperdiskursen - vom Primat der Charaktere abgelöst. Wichtig-
ster Diskussionspunkt war vor allem die Dichotomie des Schauspielers zwischen vorgespiel-
ten oder wirklich empfundenen Affekten. Die Theoretiker veränderten auch das Normen-
gefüge der klassischen Dramaturgie, um aufklärerisches Gedankengut zu vermitteln: Der Bürger
als neuer Held wurde zum legitimen Protagonisten auf der Trauerspielbühne, nicht mehr die
große Staatsaktion, sondern der private Lebensraum der Kaufleute und Beamten wurde zum
Ereignisraum von Tragödien. Die Herausbildung der neuen Gattung des bürgerlichen Dramas
sowie die Etablierung des bürgerlichen Theaters waren die Folge.11

Wie bei der Betrachtung von Werken der bildenden Kunst war ein Grundanliegen der
Reformer, die Beziehung des Zuschauers zum Bühnenbild zu ermitteln und zu verwerten. Die
visuelle Darbietung des Stückes wurde substantiell.12 Der Ruf nach Übersichtlichkeit der
Bühnenbilder, nach »reliefmäßiger« Regieführung, nach dem ruhigen »schönen« Moment,
nach dem sogenannten »Tableaucharakter« auf der Bühne und nach der »Identifikation von
Darsteller und Zuschauer« erfolgte bezeichnenderweise etwa zeitgleich mit den ersten nachge-
stellten lebenden Bildern.13

Die Verhältnisse des bis dahin vorherrschenden Kulissentheaters und der barocken
Guckkastenbühne mit ihrer rigiden gattungsbedingten Szenographie genügten den neuen re-
formerischen, pädagogischen Ansprüchen nicht mehr. Nicht nur, daß die Sicht- und Hör-
verhältnisse schlecht waren und der Zuschauerraum hell beleuchtet war, es herrschte auch
eine große Unruhe unter dem Publikum. Die Bühne selbst war opulent und in der Gesamtwir-
kung unübersichtlich gestaltet. Durch seitlich in die Tiefe gestaffelte Kulissenpaare und den
sehr großen und tiefen Bühnenraum traten die Schauspieler so vereinzelt auf, daß es den
Zerfall des Handlungsablaufes und schließlich im Extremfall Unverständlichkeit für das Publi-
kum zur Folge hatte. Man legte keinen Wert auf die Entsprechung von Dekoration und Theater-

9 Siehe Rhode Bd.l. Nr. 1. 1800. S.l. Vgl. auch für Frankreich in den 1750er Jahren Grimm: April
1754. 1.Partie. Tome 1 (1813). S.150.

10 Die ersten Schriften stammten von Remond de Sainte-Älbine in »Le Comedien« (1747) und Anto-
nio Francesco Riccoboni (1707-72) in »De la Reformation du Theätre« (1743) beziehungsweise
»L'Art du Theätre« (1750), deren Theorien nur wenig später jene von Denis Diderot in »Le Fils
naturel« (1757), »Le Pere de famille« (1758) und »Paradoxe sur le Comedien« (1769, erst 1830
veröffentlicht), von Jean-Francois Marmontel in seinem Artikel »Declamation« in der »Encyclo-
pedie« und von Louis-Sebastien Mercier (1740-1814) in »Du theätre, ou Nouvel essai sur Varl
dramatique« (1773) folgten. Vgl. den Artikel von Stephan 1986. S.99-116, die auch auf die Rezep-
tion Lessings eingeht. Auch Lang (1727), Gildon (1710), Pickering (1755) und Wilkes (1759) hat-
ten sich bereits mit den Möglichkeiten des Ausdrucks eines Schauspielers beschäftigt, vgl. Frenzel
19842. S.153 und S. 183-184. Mit Grimarests »Tratte du recitatif« (1707) und Dubos »Reflexions
critiques surla poesie et lapeinture« (1719) zeigte sich der erste Wandel im Verständnis des Schau-
spielers und seiner Rolle, die größtmögliche Illusion erzeugen sollte, vgl. Puster 1988, S.34.

11 Vgl. zu den sozialgeschichtlichen Ansätzen innerhalb der Theaterwissenschaft zum 18. Jahrhun-
dert Seul 1983. Zum bürgerlichen Trauerspiel, vgl. Frenzel 19842. S.176-177. Vgl. Brauneck 1996.
Bd.2., S.543-574.

12 Zum Begriff der Illusion auf dem Theater des 18. Jahrhunderts, vgl. Hobson 1982. S. 139-208.

13 Der Begriff »Tableau« ist heute in der Theatertheorie durchaus gebräuchlich. Vgl. den Artikel »Ta-
bleau« von Poloni. In: Brauneck 1986. S.833-834. Vgl. Puster 1988, S.6-14. Vgl. Kap.1.1.

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