1896
JUGEND
Nr. 1 und 2
Eine ganz alte Geschichte aus dem modernen Leben, erzählt
von F. v. Ostini.
Illustrirt von R. W.
Der Maler Hans Bergen ging mit nervösen Schritten in
seinem engen Atelier auf und nieder, hoch oben auf dem
Montmartre in Paris. Hin und wieder blieb er zerstreut vor
seiner Staffelei stehen und wischte mit dem Finger irgend
etwas aus in einer halbvollendeten Pastellskizze. Sie stellte
den Kopf eines Mädchens dar, der unter der Krempe eines
blumenbedeckten Riesenhutes herauslachte; sündhaft ver-
gnügt blickten ein paar braune, grosse Augen aus dem netten
Gesichtchen. Der leichtgeöffnete Mund schien irgend ein
übermüthiges Chanson zu trällern. In den lichtgelben Hinter-
grund des Bildes hatte Hans mit blauer Schrift geschrieben:
»Mont-joie-Montmartre«.
Auf einer Ottomane unter dem hohen Fenster lag das
Original des Bildes — Nichette. Sie schluchzte zum Herz-
brechen und rauchte Cigarretten dazu. Sie liebkoste mit
ihren Fussspitzen einen kleinen hässlichen Pinscher, der auf
dem Fussende der Ottomane lag und dann stiess sie ihn
wieder so heftig, dass er laut aufquickste! — —
»Nein, nein, nein! Hans, das kann nicht Dein Ernst
sein!«
»Und er ist es doch, mein Kind! Es geht nicht mehr
weiter so! Ich komme nicht vorwärts, ich vergeude meine
Zeit, mein Geld, mein Talent! Was male ich denn! Nichette,
Nichette, Nichette! Nichette lachend und weinend, Nichette
als Nonne, als Nixe, als Eva und als Pierrette, als büssende
Magdalena und als Plakatfigur für ein Cafe chantant. Ich
habe Dich als Velocipedistin gemalt, als Zigeunerin, als
Madonna und letztes Jahr — als die grossen Holzschuhe
Mode waren — sogar als Kartoffelleserin. Aber wo war ein
Erfolg? Wo ist die Kunst? — Das muss ein Ende haben!
Es ist trostlos!«
»Trostlos bist Du mir gerade nicht vorgekommen die
Jahre her — Du Undankbarer!«
Sie stand auf und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Denke nur, wie wir vergnügt waren, mein deutscher
Brummbär! Hast Du Alles vergessen? Alle die herrlichen
Soupers im Bois, die Sonntage in Versailles, die Kahnfahrten
auf der Marne, die Dejeuners dann in den grünen Lauben,
die Ausflüge nach Fontainebleau! — Und das nennt er
trostlos I«
»Es war nur zu hübsch, liebes Kind, zu hübsch und zu
viel. Ich muss aufwachen aus diesem Taumel, sonst ist es
um meine hellen Augen auf immer gethan. Verstehst Du
denn das nicht?«
»Ich verstehe nur, dass Du mich los sein willst! Und
dass ich sehr unglücklich bin! Du weisst, wie treu ich Dir
war! Ganz wie ein kleiner Hund, wie Toutou mir treu ist!
Und ich hätte genug Andere haben können! Oh ja! — Und
nun hat er mich nicht mehr lieb und lässt mich einfach
laufen!«
Sie warf sich wieder auf die Ottomane und schluchzte:
»Das ist mein Tod! Ich gehe in die Seine. Du wirst
eines Tages an der Morgue Vorbeigehen und mich kalt und
starr hinter den Glasscheiben liegen sehen. Dann wirst Du
Gewissensbisse bekommen und wieder daran denken, wie
lieb Dich die arme Nichette gehabt hat!«
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Hans wischte schweigend an seinem Pastell herum. Das
Mädchen schluchzte fort.
»Oder ich weiss, was ich thue. Ich gehe mit Wertakoff!
Er hat mir erst neulich geschrieben.«
»Er ist reich und obendrein ein Russe. Das ist ja auch
ein Vorzug!«
»Oh! Du bist abscheulich! Und diesem Menschen war
ich treu! Zwei und ein viertel Jahr! Wie mich das reut!«
»Wie sie das reut!«
»O spotte nur! Du hast mich nie geliebt — und nun
geh’ Verräther!«
In Wahrheit ging sie, nahm ihren Pinscher unter den
Arm und näherte sich der Thüre. Hans ging ihr ein paar
Schritte nach, dann zwang er seine weiche Regung nieder.
Es war besser so.
»Leb’ wohl, Schatz!«
Die Augen waren ihm doch feucht geworden über dem Ab-
schiednehmen und als die Thüre zugeschlagen war zwischen
Nichette und ihm, warf er ihr eine Kusshand nach!
»Es war doch schön! Und nun schnell uavon, bevor
sie etwa wieder kommt!«
Ein Viertelstunde später war er mit seinem Handkoffer
unten beim Concierge, dem er auftrug, auf seine Sachen
wohl Acht zu geben. Eine Kutsche kam heran: »Zum Ost-
bahnhof!« Mit Höllengepolter rollte das Gefährte die steile,
schlechtgepflasterte Strasse hinab.
Hans wendete sich noch einmal um. Da glänzte das
Baugerüst der schwerfälligen Herz-Jesu-Kirche auf dem Mont-
martre in der Abendsonne, dort ein Flügel der alten Wind-
mühle. Auf den äusseren Boulevards wogte dichtes Menschen-
gewimmel, Arbeiter mit ihren Schätzchen, Bummler, Künstler,
Soldaten. In der Schenke zur »Todten Ratte« stimmten die
Zigeunermusikanten ihre Geigen. Ein paar Dämchen mit
grotesken Hüten sassen vor der Kneipe bei ihrem Absinth,
ihrem Glase Bier. Modelle! Sie nickten dem vorüberfahrenden
Hans zu. Lachen, Scherzen!
Das fröhliche Dämmerungstreiben auf dem Zauberberge
begann.
»Mont-joie-Montmartre I«
Berg der Freude Berg der Qual!
. ... .
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Mit eintönigem Geknatter sauste der Eilzug durch die
Gefilde der Champagne. Die schlechte Beleuchtung und das
Stossen des Wagens machten es Hans schwer, zum zehnten
Male den Brief zu lesen, den er in Händen hielt, den Brief,
der ihn aus Nichette’s Armen nach Hause rief. Ein Glück,
dass die Schrift seines Freundes Ferdinand so gediegen und
iS
JUGEND
Nr. 1 und 2
Eine ganz alte Geschichte aus dem modernen Leben, erzählt
von F. v. Ostini.
Illustrirt von R. W.
Der Maler Hans Bergen ging mit nervösen Schritten in
seinem engen Atelier auf und nieder, hoch oben auf dem
Montmartre in Paris. Hin und wieder blieb er zerstreut vor
seiner Staffelei stehen und wischte mit dem Finger irgend
etwas aus in einer halbvollendeten Pastellskizze. Sie stellte
den Kopf eines Mädchens dar, der unter der Krempe eines
blumenbedeckten Riesenhutes herauslachte; sündhaft ver-
gnügt blickten ein paar braune, grosse Augen aus dem netten
Gesichtchen. Der leichtgeöffnete Mund schien irgend ein
übermüthiges Chanson zu trällern. In den lichtgelben Hinter-
grund des Bildes hatte Hans mit blauer Schrift geschrieben:
»Mont-joie-Montmartre«.
Auf einer Ottomane unter dem hohen Fenster lag das
Original des Bildes — Nichette. Sie schluchzte zum Herz-
brechen und rauchte Cigarretten dazu. Sie liebkoste mit
ihren Fussspitzen einen kleinen hässlichen Pinscher, der auf
dem Fussende der Ottomane lag und dann stiess sie ihn
wieder so heftig, dass er laut aufquickste! — —
»Nein, nein, nein! Hans, das kann nicht Dein Ernst
sein!«
»Und er ist es doch, mein Kind! Es geht nicht mehr
weiter so! Ich komme nicht vorwärts, ich vergeude meine
Zeit, mein Geld, mein Talent! Was male ich denn! Nichette,
Nichette, Nichette! Nichette lachend und weinend, Nichette
als Nonne, als Nixe, als Eva und als Pierrette, als büssende
Magdalena und als Plakatfigur für ein Cafe chantant. Ich
habe Dich als Velocipedistin gemalt, als Zigeunerin, als
Madonna und letztes Jahr — als die grossen Holzschuhe
Mode waren — sogar als Kartoffelleserin. Aber wo war ein
Erfolg? Wo ist die Kunst? — Das muss ein Ende haben!
Es ist trostlos!«
»Trostlos bist Du mir gerade nicht vorgekommen die
Jahre her — Du Undankbarer!«
Sie stand auf und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Denke nur, wie wir vergnügt waren, mein deutscher
Brummbär! Hast Du Alles vergessen? Alle die herrlichen
Soupers im Bois, die Sonntage in Versailles, die Kahnfahrten
auf der Marne, die Dejeuners dann in den grünen Lauben,
die Ausflüge nach Fontainebleau! — Und das nennt er
trostlos I«
»Es war nur zu hübsch, liebes Kind, zu hübsch und zu
viel. Ich muss aufwachen aus diesem Taumel, sonst ist es
um meine hellen Augen auf immer gethan. Verstehst Du
denn das nicht?«
»Ich verstehe nur, dass Du mich los sein willst! Und
dass ich sehr unglücklich bin! Du weisst, wie treu ich Dir
war! Ganz wie ein kleiner Hund, wie Toutou mir treu ist!
Und ich hätte genug Andere haben können! Oh ja! — Und
nun hat er mich nicht mehr lieb und lässt mich einfach
laufen!«
Sie warf sich wieder auf die Ottomane und schluchzte:
»Das ist mein Tod! Ich gehe in die Seine. Du wirst
eines Tages an der Morgue Vorbeigehen und mich kalt und
starr hinter den Glasscheiben liegen sehen. Dann wirst Du
Gewissensbisse bekommen und wieder daran denken, wie
lieb Dich die arme Nichette gehabt hat!«
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Er hat mir erst neulich geschrieben.«
»Er ist reich und obendrein ein Russe. Das ist ja auch
ein Vorzug!«
»Oh! Du bist abscheulich! Und diesem Menschen war
ich treu! Zwei und ein viertel Jahr! Wie mich das reut!«
»Wie sie das reut!«
»O spotte nur! Du hast mich nie geliebt — und nun
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In Wahrheit ging sie, nahm ihren Pinscher unter den
Arm und näherte sich der Thüre. Hans ging ihr ein paar
Schritte nach, dann zwang er seine weiche Regung nieder.
Es war besser so.
»Leb’ wohl, Schatz!«
Die Augen waren ihm doch feucht geworden über dem Ab-
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Nichette und ihm, warf er ihr eine Kusshand nach!
»Es war doch schön! Und nun schnell uavon, bevor
sie etwa wieder kommt!«
Ein Viertelstunde später war er mit seinem Handkoffer
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Hans wendete sich noch einmal um. Da glänzte das
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Zigeunermusikanten ihre Geigen. Ein paar Dämchen mit
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