1896
JUGEND
Nr. 3
Frühlingswind.
»Die haben sich lieb, die haben sich lieb!« sagte ein
Maiglöckchen und wiegte sich hin und her.
»Ja, sie haben sich lieb«, sagte die alte Eiche, und
grösste mit ihren Zweigen wohlwollend herab zu dem jungen
Paar, das zu ihren Füssen sass. Und der Frühlingswind, der
verliebte Geselle, hauchte so warm und liebkosend auf die
Wange des jungen Mädchens, dass es erschrocken aufsah,
weil es meinte, ihr Gefährte beuge sich so nahe zu ihr, um
sie zu küssen. Aber so weit waren sie noch nicht; sie
blickten sich nur zärtlich in die Augen und sprachen hie
und da ein liebes, verwirrtes Wort.
»Freilich haben sie sich lieb«, sagte der Wind befriedigt;
er hatte mit seinem leisen Wehen einen Strom von Frühlings-
duft hineingetragen in das enge Städtchen, und so die Beiden
herausgelockt; er wusste wohl, warum. Nun jagte er ein
paar Schmetterlinge zu den kleinen Frühlingsblüthen, »weil
sie gar zu neugierig hinüberschauten.« Das konnten sie jetzt
nicht mehr, denn sie hatten mit sich selbst zu thun.
Langsam sank die Sonne und umfing Alles umher mit
ihrem Glorienschein.
Er nahm seinen Hut, den sie mit einem Blätterkranz
geschmückt hatte. »Wie gut Du bist!« sagte er und küsste
ihre Hände. Dann legte er mit stiller Bewegung den Kopf
auf ihren Schooss.
Sie wagte sich nicht zu rühren; der alte Baum meinte,
ihr Herz klopfen zu hören. —
»Wir müssen heim«, sagte sie endlich. Als sie den
Hügel hinuntergingen, kam die Mondsichel über den Bäumen
hervor.
»Sing’ mir ein Lied«, bat er.
»Was für ein Lied?«
»Ein schönes!«
Er legte den Arm um sie und fasste ihre Hand. Lang-
sam schritten sie über die Wiesen und durch die stille
Frühlingsdämmerung bebte ihr weiches Stimmchen:
»Ach, wie ist’s möglich dann,
Dass ich Dich lassen kann«-—
_ _Feierlich standen die Bäume und lauschten.
»Du hast die Seele mein,
_ _ So ganz genommen ein«-
Als sie fertig war, sagte er leise:
Wir wollen diesen Abend nie vergessen!«
»Nein, nie!«
Sie waren nicht weit von der Stadt; schon leuchteten
ie enster auf und zwinkerten wie schelmische Menschen-
augen zu ihnen herüber
\
Plötzlich stiess er einen kurzen, jauchzenden Laut aus,
hob sie auf seine Arme und stürmte mit ihr vorwärts. Sie
wollte sich wehren: »Was thust Du — was thust Du?« Er
drückte sie nur fester an seine breite, junge Mannesbrust.
Nun Hess er sie los, blieb schwerathmend stehen, fasste
ihr Gesichtchen mit beiden Händen — und küsste sie auf
Stirn und Augen, dazwischen sprechend:
»O Du, - Du! Du kleines - Du liebes -. Und Deine guten
Augen! Siehst Du, die werde ich nicht vergessen, wenn ich da
draussen bin; die werde ich immer vor mir sehen — und
werde immer an Dich denken müssen — immer — immer —«.
»Jetzt lass’ mich ein wenig in Ruhe mit Deinem Ge-
tändel«, sagte die alte Eiche zum Frühlingswind, der in ihren
Blättern spielte. »Ich will nachdenken«.
»Nachdenken?« lachte der Schelm und zupfte sie noch
mehr.
»Jawohl! Davon verstehst Du natürlich nichts.« Sie
schüttelte ärgerlich die Zweige. — »Ich muss immer an das
junge Menschenpaar denken, das da einmal im Frühling vor
mir sass. Zehn Ringe habe ich derweilen angesetzt, das
sind Jahre für die Menschen. Und ich denke nun darüber
nach, warum sie nicht zu mir gekommen sind.«
»Ich will Dir den Gefallen thun und nachspüren«, sagte
der Wind.
Husch! war er im Städtchen. Er hatte es leicht, in die
Häuser zu schauen, die Fenster waren fast überall geöffnet.
Er'suchte und suchte und fand — sie. Einen Brief in der
Hand haltend, blickte sie in Gedanken verloren vor sich hin.
»Marie!«
Sie fuhr auf, als hätte sie geträumt, legte das Blatt aus
der Hand und folgte dem Rufe. Offen lag der Brief da:
Verehrte, gnädige Frau!
In den nächsten Tagen führt mich mein Weg durch
meine Vaterstadt. Ich werde nicht verfehlen, Ihnen und
Ihrem werthen Gatten meine Aufwartung zu machen. Ich
freue mich sehr, Sie wiederzusehen; dann wollen wir von
vergangenen Tagen reden und lachen — — —
»Lachen« — —, das Wort hatte sie veranlasst, so vor
sich hinzustarren. —
Im Nu war der Wind bei der Eiche und erzählte ihr,
was er nun wusste.
»Ich begreife das nicht«, meinte diese.
»Ich komme mehr unter die Leute«, sagte der Wind.
»Er hat es gemacht, wie die Andern auch. Weisst Du, wie
sie das nennen? Jugendeselei! Und sie lachen dabei und
zucken die Achseln über sich selbst.«
»Das ist abscheulich!« sagte der alte Baum.
»Ich finde es sehr lustig«, rief der Wind und eilte davon.
LISBETH UNDEMANN.
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JUGEND
Nr. 3
Frühlingswind.
»Die haben sich lieb, die haben sich lieb!« sagte ein
Maiglöckchen und wiegte sich hin und her.
»Ja, sie haben sich lieb«, sagte die alte Eiche, und
grösste mit ihren Zweigen wohlwollend herab zu dem jungen
Paar, das zu ihren Füssen sass. Und der Frühlingswind, der
verliebte Geselle, hauchte so warm und liebkosend auf die
Wange des jungen Mädchens, dass es erschrocken aufsah,
weil es meinte, ihr Gefährte beuge sich so nahe zu ihr, um
sie zu küssen. Aber so weit waren sie noch nicht; sie
blickten sich nur zärtlich in die Augen und sprachen hie
und da ein liebes, verwirrtes Wort.
»Freilich haben sie sich lieb«, sagte der Wind befriedigt;
er hatte mit seinem leisen Wehen einen Strom von Frühlings-
duft hineingetragen in das enge Städtchen, und so die Beiden
herausgelockt; er wusste wohl, warum. Nun jagte er ein
paar Schmetterlinge zu den kleinen Frühlingsblüthen, »weil
sie gar zu neugierig hinüberschauten.« Das konnten sie jetzt
nicht mehr, denn sie hatten mit sich selbst zu thun.
Langsam sank die Sonne und umfing Alles umher mit
ihrem Glorienschein.
Er nahm seinen Hut, den sie mit einem Blätterkranz
geschmückt hatte. »Wie gut Du bist!« sagte er und küsste
ihre Hände. Dann legte er mit stiller Bewegung den Kopf
auf ihren Schooss.
Sie wagte sich nicht zu rühren; der alte Baum meinte,
ihr Herz klopfen zu hören. —
»Wir müssen heim«, sagte sie endlich. Als sie den
Hügel hinuntergingen, kam die Mondsichel über den Bäumen
hervor.
»Sing’ mir ein Lied«, bat er.
»Was für ein Lied?«
»Ein schönes!«
Er legte den Arm um sie und fasste ihre Hand. Lang-
sam schritten sie über die Wiesen und durch die stille
Frühlingsdämmerung bebte ihr weiches Stimmchen:
»Ach, wie ist’s möglich dann,
Dass ich Dich lassen kann«-—
_ _Feierlich standen die Bäume und lauschten.
»Du hast die Seele mein,
_ _ So ganz genommen ein«-
Als sie fertig war, sagte er leise:
Wir wollen diesen Abend nie vergessen!«
»Nein, nie!«
Sie waren nicht weit von der Stadt; schon leuchteten
ie enster auf und zwinkerten wie schelmische Menschen-
augen zu ihnen herüber
\
Plötzlich stiess er einen kurzen, jauchzenden Laut aus,
hob sie auf seine Arme und stürmte mit ihr vorwärts. Sie
wollte sich wehren: »Was thust Du — was thust Du?« Er
drückte sie nur fester an seine breite, junge Mannesbrust.
Nun Hess er sie los, blieb schwerathmend stehen, fasste
ihr Gesichtchen mit beiden Händen — und küsste sie auf
Stirn und Augen, dazwischen sprechend:
»O Du, - Du! Du kleines - Du liebes -. Und Deine guten
Augen! Siehst Du, die werde ich nicht vergessen, wenn ich da
draussen bin; die werde ich immer vor mir sehen — und
werde immer an Dich denken müssen — immer — immer —«.
»Jetzt lass’ mich ein wenig in Ruhe mit Deinem Ge-
tändel«, sagte die alte Eiche zum Frühlingswind, der in ihren
Blättern spielte. »Ich will nachdenken«.
»Nachdenken?« lachte der Schelm und zupfte sie noch
mehr.
»Jawohl! Davon verstehst Du natürlich nichts.« Sie
schüttelte ärgerlich die Zweige. — »Ich muss immer an das
junge Menschenpaar denken, das da einmal im Frühling vor
mir sass. Zehn Ringe habe ich derweilen angesetzt, das
sind Jahre für die Menschen. Und ich denke nun darüber
nach, warum sie nicht zu mir gekommen sind.«
»Ich will Dir den Gefallen thun und nachspüren«, sagte
der Wind.
Husch! war er im Städtchen. Er hatte es leicht, in die
Häuser zu schauen, die Fenster waren fast überall geöffnet.
Er'suchte und suchte und fand — sie. Einen Brief in der
Hand haltend, blickte sie in Gedanken verloren vor sich hin.
»Marie!«
Sie fuhr auf, als hätte sie geträumt, legte das Blatt aus
der Hand und folgte dem Rufe. Offen lag der Brief da:
Verehrte, gnädige Frau!
In den nächsten Tagen führt mich mein Weg durch
meine Vaterstadt. Ich werde nicht verfehlen, Ihnen und
Ihrem werthen Gatten meine Aufwartung zu machen. Ich
freue mich sehr, Sie wiederzusehen; dann wollen wir von
vergangenen Tagen reden und lachen — — —
»Lachen« — —, das Wort hatte sie veranlasst, so vor
sich hinzustarren. —
Im Nu war der Wind bei der Eiche und erzählte ihr,
was er nun wusste.
»Ich begreife das nicht«, meinte diese.
»Ich komme mehr unter die Leute«, sagte der Wind.
»Er hat es gemacht, wie die Andern auch. Weisst Du, wie
sie das nennen? Jugendeselei! Und sie lachen dabei und
zucken die Achseln über sich selbst.«
»Das ist abscheulich!« sagte der alte Baum.
»Ich finde es sehr lustig«, rief der Wind und eilte davon.
LISBETH UNDEMANN.
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