1896
JUGEND
Nr. 4
Sieh! die Messe ist zu Ende —
Und die Gläubigen verlassen
Ihre kleine Kirche, deren
Thurm so spitz, wie eine Spindel.
Bunte, sonntägliche Gruppen
Drängen aus der Kirchenpforte
Und verziehen sich allmälig
Bis es leer wird auf dem Platze.
Aber halt! was für ein grelles
Ding liegt an der Kirchhofsmauer?
Ich trat näher, und vor mir
Lag ein buntes Taschentuch.
Zweifellos verlor es eben
Einer jener Kirchengänger.
Richtig! — dorten in der Ferne
Naht ein Weiblein, ängstlich suchend.
Schnell heb’ ich das Tuch vom Boden,
Will’s der Frau entgegentragen —
Da entdeck’ ich einen Knoten
Und im Knoten fühl’ ich Schätze.
Was mich antrieb, weiss ich selbst nicht —
Kurz, ich öffnete den Knoten:
Ach, wie traurig, ach, wie rührend!
Tiefer Armuth Spuren sah ich!
Wenige kleine Silbermünzen
Lagen abgesondert, etwas
Nickel gab’s. Das Andere
War gemeines Kupfergeld.
Auch ein Amulet von Messing
Lag dabei, den Schatz zu hüten;
Sankt Franziskus! Dieser aber
Scheint es, inspirirte mich.
Denn, was ja im Leben jedem
Menschen einmal kann passiren,
Widerfuhr auch mir: ich hatte
Einen lichten Augenblick.
Einen blanken Silbergulden
Band ich zu den andern Schätzen
In das Tüchlein, legte alles
Auf den alten Platz und ging.
Ja, da war sie schon! — Ich stand
So, dass sie mich nicht bemerkte.
Eine arme Bäurin war’s,
Abgehärmt und früh gealtert.
Als die Hagre, deren Augen
Auf dem Boden gierig forschten,
Das Verlorene entdeckt hat,
Schöpft sie Athem wie erlöst.
Hastig nimmt sie auf das Tuch
Und befühlt in Angst den Knoten.
V’as ist das? — Sie stutzt! das Ding
Scheint ihr dicker, als es war.
Und mit Fingern, welche zittern,
U eff net sje, schreit »Jesus Christus!«
Sinkt in ihre Knie nieder.
Schlägt ein Kreuz und betet laut.
Als ich nun vor wenig Wochen,
Nach so vielen vielen Jahren,
Wiederum in’s Dörflein kam,
Fand ich nah der alten Kirche
Eine neue Altar-Nische
Für den heiligen Franziskus,
w*? 5'n ?'tes Bäuerlein,
Welches ich darum befragte,
Sagte: Ja, der Heil’ge habe
Einmal einer frommen alten
Frau, die Medizinen brauchte
Für den kranken Mann zu Hause.
In ein Tuch, das sie verloren,
Eingelegt das nöthige Geld.
Die Gemeinde aber habe
Ihm dafür dies Bild gestiftet.
A. WOHLMUTH.
»Du!«
»Miez?«
»Arthur! Setze Dich einmal neben mich!
Nicht gar so nahe — so! Ich habe Dir schon
seit Langem Etwas zu sagen.«
»Himmel, wie ernsthaft! Wird’s eine
Strafpredigt?«
»Nein — ich will Dir nur sagen —
dass wir keine Kinder mehr sind.«
»Wir?«
»Du brauchst gar nicht so spöttisch zu
thun! Auch ich bin kein Kind mehr!«
»Natürlich — siebzehn gewesen!«
»Bald achtzehn! Und ich sehe aus wie
zwanzig, sagt Mama.«
»Du bist herzig!«
»Nun fängst Du schon wieder an! Und
darum geht es wirklich nicht mehr so weiter
— eben weil wir keine Kinder mehr sind!«
»Aber was geht denn nicht mehr, dum-
me kleine Miez?«
»Das ist auch so was! Ich heisse Wil-
helmine.« —
»Von und zu Bergholz! Weiss ich!
Aber was will diese überflüssige Bemerk-
ung sagen?«
»Kurz das: Wir dürfen nicht mehr so
wie bisher zusammen verkehren — nicht
mehr so —-
»So frere et co—.«
»Sei nicht ungezogen.«
»So kameradschaftlich?«
»Ja, nicht mehr so kameradschaftlich!
Du bist jetzt schon fünfundzwanzig.«
»Ich sehe aus wie vierundzwanzig, sagt
Papa.«
»Sei doch einen Augenblick ernsthaft!
Ich spasse gar nicht! Also höre: Du bist
| fünfundzwanzig, ich fast achtzehn; wir sind
gar nicht verwandt und können nicht länger
mehr die Nachbarskinder spielen.«
»Diese Wendung ist auch von Deiner
Mama!«
»Mag sein! Aber sie hat Recht!«
»Also entfremden wir uns! — Und wie
sollen wir diese unsere Entfremdung zu
sichtbarem oder hörbarem Ausdruck brin-
gen?«
»Wir dürfen nicht mehr — Du sagen
zu einander.«
»Nicht einmal das mehr! Und ich war
so stolz darauf, und sie beneideten mich
so — die Andern, die Dir den Hof ma-
chen —«
»Mir?«
»Ja! Ja! Ja! Eine ganze Menge heirats-
fähiger Biedermänner macht Dir den Hof.
Da ist der lange Amtsrichter, der sich auf
seinen Vollbart und seine I im Staatskon-
kurs so viel einbildet; der schöne Doktor,
der thut, als dürfe ihn überhaupt kein
, Mädchen ausschlagen, weil er es ist, Er,
ER, der Rechtsanwalt, mit dem moquanten
Lächeln — sein ganzer Witz besteht aus
diesem Lächeln — und der Major, der
immer hüpft wie eine Naive, um seinen
Rheumatismus wegzuleugnen, der sanfte
Lyriker, der Dich fortwährend mit seinen
Blicken andichtet, dann der Baron mit den
grossen Schulden und dem kleinen Schnurr-
bart — Sie alle machen Dir den Hof und
beneiden mich um das Vorrecht, Dich Du-
zen zu dürfen. — Und — Miez! Sag’ ein-
mal ehrlich — wie kamst Du überhaupt
darauf?«
»Ich kam ja gar nicht darauf — oder
doch — aber nicht ganz allein! Mama —
und auch Tante Lina —«
»Die Mütter! Mütter! — ’s klingt so
wunderlich! Was haben sie also ausge-
heckt?«
»Mama fand, dass es an der Zeit sei,
dass wir — ich wiederhole nur ihre Worte
— das kindische Verhältniss abbrächen.«
»Ach und es war so reizend! Jetzt,
wo sie uns die Binde von den Augen reissen,
weiss ich erst, in welch schönem Garten
wir spazieren gingen. Und gerade, weil das
Verhältniss kindisch war, ist es schön ge-
wesen! — Aber wenn Mama befiehlt — Da
meine Hand, schlag’ ein! Auf Sie und Sie!«
»Auf Sie und Sie! Und nun sage ich
nie wieder Du zu Ihnen!«
»Und ich sage fortan getreulich Sie
zu Dir!«
»Und dann noch eins!«
»Wie Sie befehlen, Wilhelmine.«
»Mit dem Taufnamen — Herr Doktor
— das geht auch nicht mehr an!«
»Gnädiges Fräulein! Mir ist es, als
wäre hinter mir eine Thüre zugeschlagen,
eine Thüre, hinter der es warm und hell
war und vor der nun eine Regennacht liegt!
Das ist ein hässliches Gefühl! Ein bitter
ernstes jedenfalls, wie bei jedem Abschnitt
im Leben! Wir sind keine Kinder mehr!
Was ist das Mie — Fräulein v. Bergholz?
Das, was da auf Ihrer Wange glänzt, sieht
ganz wie ein Thränlein aus!«
»Oh nein! Ich bin mir nur mit dem
Fächer in’s Auge gekommen!«
»Empfinden Sie also nicht auch einen
leichten Geschmack von Bitterniss auf der
Zunge? — Gar nichts?«
»Ich weiss nicht, was Sie meinen —
das heisst, ich weiss jetzt bestimmt, dass
meine Mama nicht gar so unrecht hatte.«
»Und seit wann wissen Sie das?«
»Seit Sie das mit der Bitterniss sag-
ten —«
»Miez!«
»Bitte: Fräulein--
»Lass’ nur, liebe Miez, Du hast ja
schon so viel verrathen!« —
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JUGEND
Nr. 4
Sieh! die Messe ist zu Ende —
Und die Gläubigen verlassen
Ihre kleine Kirche, deren
Thurm so spitz, wie eine Spindel.
Bunte, sonntägliche Gruppen
Drängen aus der Kirchenpforte
Und verziehen sich allmälig
Bis es leer wird auf dem Platze.
Aber halt! was für ein grelles
Ding liegt an der Kirchhofsmauer?
Ich trat näher, und vor mir
Lag ein buntes Taschentuch.
Zweifellos verlor es eben
Einer jener Kirchengänger.
Richtig! — dorten in der Ferne
Naht ein Weiblein, ängstlich suchend.
Schnell heb’ ich das Tuch vom Boden,
Will’s der Frau entgegentragen —
Da entdeck’ ich einen Knoten
Und im Knoten fühl’ ich Schätze.
Was mich antrieb, weiss ich selbst nicht —
Kurz, ich öffnete den Knoten:
Ach, wie traurig, ach, wie rührend!
Tiefer Armuth Spuren sah ich!
Wenige kleine Silbermünzen
Lagen abgesondert, etwas
Nickel gab’s. Das Andere
War gemeines Kupfergeld.
Auch ein Amulet von Messing
Lag dabei, den Schatz zu hüten;
Sankt Franziskus! Dieser aber
Scheint es, inspirirte mich.
Denn, was ja im Leben jedem
Menschen einmal kann passiren,
Widerfuhr auch mir: ich hatte
Einen lichten Augenblick.
Einen blanken Silbergulden
Band ich zu den andern Schätzen
In das Tüchlein, legte alles
Auf den alten Platz und ging.
Ja, da war sie schon! — Ich stand
So, dass sie mich nicht bemerkte.
Eine arme Bäurin war’s,
Abgehärmt und früh gealtert.
Als die Hagre, deren Augen
Auf dem Boden gierig forschten,
Das Verlorene entdeckt hat,
Schöpft sie Athem wie erlöst.
Hastig nimmt sie auf das Tuch
Und befühlt in Angst den Knoten.
V’as ist das? — Sie stutzt! das Ding
Scheint ihr dicker, als es war.
Und mit Fingern, welche zittern,
U eff net sje, schreit »Jesus Christus!«
Sinkt in ihre Knie nieder.
Schlägt ein Kreuz und betet laut.
Als ich nun vor wenig Wochen,
Nach so vielen vielen Jahren,
Wiederum in’s Dörflein kam,
Fand ich nah der alten Kirche
Eine neue Altar-Nische
Für den heiligen Franziskus,
w*? 5'n ?'tes Bäuerlein,
Welches ich darum befragte,
Sagte: Ja, der Heil’ge habe
Einmal einer frommen alten
Frau, die Medizinen brauchte
Für den kranken Mann zu Hause.
In ein Tuch, das sie verloren,
Eingelegt das nöthige Geld.
Die Gemeinde aber habe
Ihm dafür dies Bild gestiftet.
A. WOHLMUTH.
»Du!«
»Miez?«
»Arthur! Setze Dich einmal neben mich!
Nicht gar so nahe — so! Ich habe Dir schon
seit Langem Etwas zu sagen.«
»Himmel, wie ernsthaft! Wird’s eine
Strafpredigt?«
»Nein — ich will Dir nur sagen —
dass wir keine Kinder mehr sind.«
»Wir?«
»Du brauchst gar nicht so spöttisch zu
thun! Auch ich bin kein Kind mehr!«
»Natürlich — siebzehn gewesen!«
»Bald achtzehn! Und ich sehe aus wie
zwanzig, sagt Mama.«
»Du bist herzig!«
»Nun fängst Du schon wieder an! Und
darum geht es wirklich nicht mehr so weiter
— eben weil wir keine Kinder mehr sind!«
»Aber was geht denn nicht mehr, dum-
me kleine Miez?«
»Das ist auch so was! Ich heisse Wil-
helmine.« —
»Von und zu Bergholz! Weiss ich!
Aber was will diese überflüssige Bemerk-
ung sagen?«
»Kurz das: Wir dürfen nicht mehr so
wie bisher zusammen verkehren — nicht
mehr so —-
»So frere et co—.«
»Sei nicht ungezogen.«
»So kameradschaftlich?«
»Ja, nicht mehr so kameradschaftlich!
Du bist jetzt schon fünfundzwanzig.«
»Ich sehe aus wie vierundzwanzig, sagt
Papa.«
»Sei doch einen Augenblick ernsthaft!
Ich spasse gar nicht! Also höre: Du bist
| fünfundzwanzig, ich fast achtzehn; wir sind
gar nicht verwandt und können nicht länger
mehr die Nachbarskinder spielen.«
»Diese Wendung ist auch von Deiner
Mama!«
»Mag sein! Aber sie hat Recht!«
»Also entfremden wir uns! — Und wie
sollen wir diese unsere Entfremdung zu
sichtbarem oder hörbarem Ausdruck brin-
gen?«
»Wir dürfen nicht mehr — Du sagen
zu einander.«
»Nicht einmal das mehr! Und ich war
so stolz darauf, und sie beneideten mich
so — die Andern, die Dir den Hof ma-
chen —«
»Mir?«
»Ja! Ja! Ja! Eine ganze Menge heirats-
fähiger Biedermänner macht Dir den Hof.
Da ist der lange Amtsrichter, der sich auf
seinen Vollbart und seine I im Staatskon-
kurs so viel einbildet; der schöne Doktor,
der thut, als dürfe ihn überhaupt kein
, Mädchen ausschlagen, weil er es ist, Er,
ER, der Rechtsanwalt, mit dem moquanten
Lächeln — sein ganzer Witz besteht aus
diesem Lächeln — und der Major, der
immer hüpft wie eine Naive, um seinen
Rheumatismus wegzuleugnen, der sanfte
Lyriker, der Dich fortwährend mit seinen
Blicken andichtet, dann der Baron mit den
grossen Schulden und dem kleinen Schnurr-
bart — Sie alle machen Dir den Hof und
beneiden mich um das Vorrecht, Dich Du-
zen zu dürfen. — Und — Miez! Sag’ ein-
mal ehrlich — wie kamst Du überhaupt
darauf?«
»Ich kam ja gar nicht darauf — oder
doch — aber nicht ganz allein! Mama —
und auch Tante Lina —«
»Die Mütter! Mütter! — ’s klingt so
wunderlich! Was haben sie also ausge-
heckt?«
»Mama fand, dass es an der Zeit sei,
dass wir — ich wiederhole nur ihre Worte
— das kindische Verhältniss abbrächen.«
»Ach und es war so reizend! Jetzt,
wo sie uns die Binde von den Augen reissen,
weiss ich erst, in welch schönem Garten
wir spazieren gingen. Und gerade, weil das
Verhältniss kindisch war, ist es schön ge-
wesen! — Aber wenn Mama befiehlt — Da
meine Hand, schlag’ ein! Auf Sie und Sie!«
»Auf Sie und Sie! Und nun sage ich
nie wieder Du zu Ihnen!«
»Und ich sage fortan getreulich Sie
zu Dir!«
»Und dann noch eins!«
»Wie Sie befehlen, Wilhelmine.«
»Mit dem Taufnamen — Herr Doktor
— das geht auch nicht mehr an!«
»Gnädiges Fräulein! Mir ist es, als
wäre hinter mir eine Thüre zugeschlagen,
eine Thüre, hinter der es warm und hell
war und vor der nun eine Regennacht liegt!
Das ist ein hässliches Gefühl! Ein bitter
ernstes jedenfalls, wie bei jedem Abschnitt
im Leben! Wir sind keine Kinder mehr!
Was ist das Mie — Fräulein v. Bergholz?
Das, was da auf Ihrer Wange glänzt, sieht
ganz wie ein Thränlein aus!«
»Oh nein! Ich bin mir nur mit dem
Fächer in’s Auge gekommen!«
»Empfinden Sie also nicht auch einen
leichten Geschmack von Bitterniss auf der
Zunge? — Gar nichts?«
»Ich weiss nicht, was Sie meinen —
das heisst, ich weiss jetzt bestimmt, dass
meine Mama nicht gar so unrecht hatte.«
»Und seit wann wissen Sie das?«
»Seit Sie das mit der Bitterniss sag-
ten —«
»Miez!«
»Bitte: Fräulein--
»Lass’ nur, liebe Miez, Du hast ja
schon so viel verrathen!« —
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