Nr. 4
JUGEND
1896
Kehr’ Jeder vor der eig’nen Thür’ —-
Die Meisten haben Grund dafür! — —
Ais jüngstens von der rechten Seite
Ein Mann in’s Weite ging und Pleite
Als Fälscher und gemeiner Dieb,
Der eh’dem viel Artikel schrieb,
Wie Tugend man im Land verbreite,
Und für Altar und Krone streite,
Wie unreell in Wettbewerben
Die Juden, die das Volk verderben,
Und wie sie oft um ihr Vermögen
Die Leute raffinirt betrögen, —
Als dieser floh und überdies
Sich vielfach sonst „so-so“ erwies,
Beim Baccarat und Ecarte
Und auch im Chambre separee:
Der Herr Baron von Hammerstein,
Wie ein gehetztes wildes Schwein
Ward er verfolgt und seine Leute
Von grimmer Bracken wilder Meute.
Da goss man Spott und Gift und Hohn
Auf alle „Edlen der Nation“
Und die um Richter und um Singer
Erhoben warnend ihre Finger
Und riefen laut: „Nein, so was Schlechts
Passirt gottlob nie links, nur rechts!“ —
Doch ging es hier wie überall,
Es kam der Hochmuth vor dem Fall:
Es wird das Gleiche jetzt bekannt,
Von Einem, der mehr linkswärts stand
In Politik und Religion
Und der gar oft in scharfem Ton
Mit warmer Ueberzeugung Pathos
Und mit der Tugendmiene Cato’s
Vertreten der Enterbten Rechte
In spitzgeführtem Wortgefechte.
Fritz Friedmann heisst der biedre Knabe,
Der eben griff zum Wanderstabe
Und sachte durchging „mit avec“
Zu vieler arg Betrog’nen Schreck.
,Wie ein gehetztes Edelwild“ —
Ich brauche hier sein eignes Bild,
I Entfloh der stramme Demokrat
Den Rackern von Justiz und Staat,
Nahm fremde Gelder mit als Raub
Und noch als Lump mit Eichenlaub
Drapirt er sich, mit Phrasenfetzen,
Und spricht von Hunden, die ihn hetzen.
Genau so hat’s der Hammersteiner
Gemacht — nicht gröber und nicht feiner:
Und schaut man sich nur gründlich um,
Ist allerseits was schief und krumm.
Es hat manch braver Centrumsmann
Schon Hammersteinisches gethan,
Und mancher Held von Singers Schaar
War besser nicht, als Friedmann war,
Und der Antisemiten Zahl ward
Von Gott bestraft mit Meister Ahlwardt.
Auch bleibt’s der Nachwelt unverloren,
Wie Stöcker fast „vorbeigeschworen“ —
So hat halt jegliche Partei
Im Wandschrank ihr Skelett — auch zwei
Und überall ist Grund dafür,
Zu kehren vor der eig’nen Thür!
Geehrte Redaktion!
Die Lorbeeren des vir pacificus in den
„Preussischen Jahrbüchern“ haben mich
nicht schla- nein, im Gegentheil: sie haben
mich schlafen lassen, sonst hätte ich ja den
unten mitgetheilten Ergänzungstraum zu
den „Politischen Träumereien“ nicht träu-
men können, die der oben genannte Fii>
densmann in besagter Monatsschrift ver-
öffentlicht hat. Mein Traum hängt mit dem
Weihnachtsgeschenk einer liebevollen alten
Tante zusammen. Sie schickte mir ein paar
Flaschen guten alten Rhum, eine Flüssig-
keit, die mit etwas warmem Wasser ver-
mischt ein wohlschmeckendes und anregen-
des Getränk bildet. Ich leerte das Tröpflein
auf das Wohl der braven Dame und las
während ich mit der ersten halben Flasche
beschäftigt war — später hinderte mich ein
akuter Fall von Augenschwäche am Lesen
— die politischen Träumereien des vir pa-
cificus. Diese Umwerthung aller politischen
Werthe gefiel mir ausnehmend in meiner
gehobenen und heiteren Stimmung. Aber
wenn schon, denn schon! Bei fraglicher
Vertheilung kamen viele Länder und Per-
sonen zu kurz, das war nicht Recht! Nach
und nach entwickelte sich in mir ein hoch-
gesteigertes Machtgefühl. Ich vertheilte die
Welt, Alles fügte sich meinen Anordnungen.
Hier sind sie:
Reuss ältere Linie verpflichtet sich, end-
lich das deutsche Reich anzuerkennen und
bekommt dafür Madagaskar; Argentinien,
Portugal, Griechenland und Monaco werden
unter König Milan von Serbien zu einem
Königreich Pumponia vereinigt; derLandes-
herr betreibt die Geschäfte von Monaco in
eigener Regie und zahlt aus den Erträgnis-
sen dieses Betriebes nach und nach die
Schulden der genannten Länder; Ungarn
bekommt seinen eigenen Globus, Böhmen
sogar sein eigenes czechisches Planeten-
system ; das Fürstenthum Liechtenstein, das
bekanntlich seit 1866 mit den Preussen im
Krieg lebt, schliesst endlich Frieden mit die-
sen und rückt in den Rang der siebenten
Grossmacht auf. Russland tritt Sibirien an
die räumlich etwas beschränkte Republik
San Marino ab. England überlässt Deutsch-
land ein Vogelriff im atlantischen Ozean
(15 Dm Oberfläche) und erhält dafür die
deutschen Colonien in Ost-, West- und Süd-
afrika. Ausserdem bekommt es den Rest
von Afrika, ganz Asien, Südamerika, Au-
stralien, Hannover, Sachsen - Goburg - Go-
tha, die noch unentdeckten Polarländer,
die uns zugekehrte Seite des Mondes und
den Ring des Saturn. Die Ansprüche auf
die Kugel des Letzteren hat England gross-
müthig Deutschland überlassen. Dem
Königreich Bayern wird ausser der Mark-
grafschaft Bayreuth, welche unter Co-
sima I. wieder hergestellt wird und der
Lehensherrschaft Fuchsmühl, die sich
unter dem Präsidenten Grillenberger als
Republik erklärt, auch noch die Mühe,
für die Rheinpfalz zu sorgen, abgenom-
men. Diese bekommen die Spanier, da-
mit sie, da ihnen Cuba doch verloren geht,
in Zukunft wenigstens etwas zu rauchen
haben. Dafür gibt Spanien an die Eng-
länder den Landstrich nördlich von Gib
raltar bis zu den Pyrenäen ab. Irland
macht sich unter Gladstone als Königreich
selbständig. J apan,das wegenseinerMacht-
stellung das Bewusstsein, eine Insel zu sein,
entschieden schmerzlich empfindet, wird
als Festland erklärt. Grönland wird
den deutschen Sozialdemokraten überlas-
sen; Singer, Liebknecht und Bebel richten
dort einen Zukunftsstaat ein. Palästina
wird unter Hirsch I. wieder ein Königreich
wie früher. Der Kirchenstaat wird wie-
der hergestellt; es fragt sich nur wo? Das
Herzogthum Lauenburg geht an Eugen
Richter über. Tirol bekommen di: Kapu-
ziner, die Jesuiten und die Franziskaner
zu gleichen Theilen. Berlin wird durch
zwangsweise Abschiebungen aus anderen
Städten zur Fünfmillionenstadt ergänzt und
erhält den Beinamen „Kopf der Welt“. Die
Vereinigten Staaten siedeln nach Chi-
na über, um die dort schon vorhandene chi-
nesische Mauer in Betrieb zu nehmen. Die
in Nordamerika frei werdenden Gebiete fal-
len dann natürlich an England. Für die
357 Millionen Chinesen, die dadurch ob-
dachlos werden, muss erst ein neuer Auf-
enthaltsort gefunden werden; vielleicht No-
waja Sem 1 ja. Oder Island? Aber hier
denkt sich ja Ferdinand von Coburg als Lan-
desvater niederzulassen, da Russland die
Selbständigkeit und das Königreich werden
Bulgarien nur unter der Bedingung zuge-
steht, dass Boris sofort die Zügel der Re-
gierung ergreift. Man kann auf die Thron-
rede des jungen Monarchen sehr gespannt
sein. Die Schweiz erhöht die Zahl ihrer
Cantone auf 150; jeder davon bekommt
seine eigene Verfassung. Montenegro
bekommt von Russland noch ein Tagwerk
und drei Dezimalen Grund und das alleinige
Privilegium zum Hammelstehlen auf der
Balkan-Halbinsel. Wenn allenfalls sonst
noch irgend was übrig ist, bekommen es die
Engländer.-
Dieses ist mein Ergänzungstraum. Er
kommt Ihnen vielleicht ein wenig confus
vor. Aber schliesslich, ärger als der Träu-
mer der „Preussischen Jahrbücher“ habe
ich es auch nicht gemacht.
Und dann bedenken Sie, die zwei Fla-
schen Rhum!
Hochachtungsvoll
Vir pacipfifflcus-
64
JUGEND
1896
Kehr’ Jeder vor der eig’nen Thür’ —-
Die Meisten haben Grund dafür! — —
Ais jüngstens von der rechten Seite
Ein Mann in’s Weite ging und Pleite
Als Fälscher und gemeiner Dieb,
Der eh’dem viel Artikel schrieb,
Wie Tugend man im Land verbreite,
Und für Altar und Krone streite,
Wie unreell in Wettbewerben
Die Juden, die das Volk verderben,
Und wie sie oft um ihr Vermögen
Die Leute raffinirt betrögen, —
Als dieser floh und überdies
Sich vielfach sonst „so-so“ erwies,
Beim Baccarat und Ecarte
Und auch im Chambre separee:
Der Herr Baron von Hammerstein,
Wie ein gehetztes wildes Schwein
Ward er verfolgt und seine Leute
Von grimmer Bracken wilder Meute.
Da goss man Spott und Gift und Hohn
Auf alle „Edlen der Nation“
Und die um Richter und um Singer
Erhoben warnend ihre Finger
Und riefen laut: „Nein, so was Schlechts
Passirt gottlob nie links, nur rechts!“ —
Doch ging es hier wie überall,
Es kam der Hochmuth vor dem Fall:
Es wird das Gleiche jetzt bekannt,
Von Einem, der mehr linkswärts stand
In Politik und Religion
Und der gar oft in scharfem Ton
Mit warmer Ueberzeugung Pathos
Und mit der Tugendmiene Cato’s
Vertreten der Enterbten Rechte
In spitzgeführtem Wortgefechte.
Fritz Friedmann heisst der biedre Knabe,
Der eben griff zum Wanderstabe
Und sachte durchging „mit avec“
Zu vieler arg Betrog’nen Schreck.
,Wie ein gehetztes Edelwild“ —
Ich brauche hier sein eignes Bild,
I Entfloh der stramme Demokrat
Den Rackern von Justiz und Staat,
Nahm fremde Gelder mit als Raub
Und noch als Lump mit Eichenlaub
Drapirt er sich, mit Phrasenfetzen,
Und spricht von Hunden, die ihn hetzen.
Genau so hat’s der Hammersteiner
Gemacht — nicht gröber und nicht feiner:
Und schaut man sich nur gründlich um,
Ist allerseits was schief und krumm.
Es hat manch braver Centrumsmann
Schon Hammersteinisches gethan,
Und mancher Held von Singers Schaar
War besser nicht, als Friedmann war,
Und der Antisemiten Zahl ward
Von Gott bestraft mit Meister Ahlwardt.
Auch bleibt’s der Nachwelt unverloren,
Wie Stöcker fast „vorbeigeschworen“ —
So hat halt jegliche Partei
Im Wandschrank ihr Skelett — auch zwei
Und überall ist Grund dafür,
Zu kehren vor der eig’nen Thür!
Geehrte Redaktion!
Die Lorbeeren des vir pacificus in den
„Preussischen Jahrbüchern“ haben mich
nicht schla- nein, im Gegentheil: sie haben
mich schlafen lassen, sonst hätte ich ja den
unten mitgetheilten Ergänzungstraum zu
den „Politischen Träumereien“ nicht träu-
men können, die der oben genannte Fii>
densmann in besagter Monatsschrift ver-
öffentlicht hat. Mein Traum hängt mit dem
Weihnachtsgeschenk einer liebevollen alten
Tante zusammen. Sie schickte mir ein paar
Flaschen guten alten Rhum, eine Flüssig-
keit, die mit etwas warmem Wasser ver-
mischt ein wohlschmeckendes und anregen-
des Getränk bildet. Ich leerte das Tröpflein
auf das Wohl der braven Dame und las
während ich mit der ersten halben Flasche
beschäftigt war — später hinderte mich ein
akuter Fall von Augenschwäche am Lesen
— die politischen Träumereien des vir pa-
cificus. Diese Umwerthung aller politischen
Werthe gefiel mir ausnehmend in meiner
gehobenen und heiteren Stimmung. Aber
wenn schon, denn schon! Bei fraglicher
Vertheilung kamen viele Länder und Per-
sonen zu kurz, das war nicht Recht! Nach
und nach entwickelte sich in mir ein hoch-
gesteigertes Machtgefühl. Ich vertheilte die
Welt, Alles fügte sich meinen Anordnungen.
Hier sind sie:
Reuss ältere Linie verpflichtet sich, end-
lich das deutsche Reich anzuerkennen und
bekommt dafür Madagaskar; Argentinien,
Portugal, Griechenland und Monaco werden
unter König Milan von Serbien zu einem
Königreich Pumponia vereinigt; derLandes-
herr betreibt die Geschäfte von Monaco in
eigener Regie und zahlt aus den Erträgnis-
sen dieses Betriebes nach und nach die
Schulden der genannten Länder; Ungarn
bekommt seinen eigenen Globus, Böhmen
sogar sein eigenes czechisches Planeten-
system ; das Fürstenthum Liechtenstein, das
bekanntlich seit 1866 mit den Preussen im
Krieg lebt, schliesst endlich Frieden mit die-
sen und rückt in den Rang der siebenten
Grossmacht auf. Russland tritt Sibirien an
die räumlich etwas beschränkte Republik
San Marino ab. England überlässt Deutsch-
land ein Vogelriff im atlantischen Ozean
(15 Dm Oberfläche) und erhält dafür die
deutschen Colonien in Ost-, West- und Süd-
afrika. Ausserdem bekommt es den Rest
von Afrika, ganz Asien, Südamerika, Au-
stralien, Hannover, Sachsen - Goburg - Go-
tha, die noch unentdeckten Polarländer,
die uns zugekehrte Seite des Mondes und
den Ring des Saturn. Die Ansprüche auf
die Kugel des Letzteren hat England gross-
müthig Deutschland überlassen. Dem
Königreich Bayern wird ausser der Mark-
grafschaft Bayreuth, welche unter Co-
sima I. wieder hergestellt wird und der
Lehensherrschaft Fuchsmühl, die sich
unter dem Präsidenten Grillenberger als
Republik erklärt, auch noch die Mühe,
für die Rheinpfalz zu sorgen, abgenom-
men. Diese bekommen die Spanier, da-
mit sie, da ihnen Cuba doch verloren geht,
in Zukunft wenigstens etwas zu rauchen
haben. Dafür gibt Spanien an die Eng-
länder den Landstrich nördlich von Gib
raltar bis zu den Pyrenäen ab. Irland
macht sich unter Gladstone als Königreich
selbständig. J apan,das wegenseinerMacht-
stellung das Bewusstsein, eine Insel zu sein,
entschieden schmerzlich empfindet, wird
als Festland erklärt. Grönland wird
den deutschen Sozialdemokraten überlas-
sen; Singer, Liebknecht und Bebel richten
dort einen Zukunftsstaat ein. Palästina
wird unter Hirsch I. wieder ein Königreich
wie früher. Der Kirchenstaat wird wie-
der hergestellt; es fragt sich nur wo? Das
Herzogthum Lauenburg geht an Eugen
Richter über. Tirol bekommen di: Kapu-
ziner, die Jesuiten und die Franziskaner
zu gleichen Theilen. Berlin wird durch
zwangsweise Abschiebungen aus anderen
Städten zur Fünfmillionenstadt ergänzt und
erhält den Beinamen „Kopf der Welt“. Die
Vereinigten Staaten siedeln nach Chi-
na über, um die dort schon vorhandene chi-
nesische Mauer in Betrieb zu nehmen. Die
in Nordamerika frei werdenden Gebiete fal-
len dann natürlich an England. Für die
357 Millionen Chinesen, die dadurch ob-
dachlos werden, muss erst ein neuer Auf-
enthaltsort gefunden werden; vielleicht No-
waja Sem 1 ja. Oder Island? Aber hier
denkt sich ja Ferdinand von Coburg als Lan-
desvater niederzulassen, da Russland die
Selbständigkeit und das Königreich werden
Bulgarien nur unter der Bedingung zuge-
steht, dass Boris sofort die Zügel der Re-
gierung ergreift. Man kann auf die Thron-
rede des jungen Monarchen sehr gespannt
sein. Die Schweiz erhöht die Zahl ihrer
Cantone auf 150; jeder davon bekommt
seine eigene Verfassung. Montenegro
bekommt von Russland noch ein Tagwerk
und drei Dezimalen Grund und das alleinige
Privilegium zum Hammelstehlen auf der
Balkan-Halbinsel. Wenn allenfalls sonst
noch irgend was übrig ist, bekommen es die
Engländer.-
Dieses ist mein Ergänzungstraum. Er
kommt Ihnen vielleicht ein wenig confus
vor. Aber schliesslich, ärger als der Träu-
mer der „Preussischen Jahrbücher“ habe
ich es auch nicht gemacht.
Und dann bedenken Sie, die zwei Fla-
schen Rhum!
Hochachtungsvoll
Vir pacipfifflcus-
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