1896
JUGEND
Nr. 5
,! f !. t
Geschöpfchen mit dem greisenhaften Gesicht Nahrung zu
spenden. Mater dolorosa in elendester Gestalt!
Leise will ich ihr ein Geldstück in den Schooss legen,
da fährt sie jäh in die Höhe und starrt mich mit weit ge-
öffneten Augen an, das Kind, das zu schreien anfangen will,
krampfhaft an sich drückend.
»Liebe Frau, ich habe Sie nicht stören wollen, bleiben
Sie ruhig sitzen!«
»Ach Gott, ach Gott, was bin ich erschrocken!« Sie sagt
es fast athemlos.
»Aber warum denn, ich thue Ihnen Nichts zu Leide; ich
gehe schon wieder, habe nur den Garten beseh’n wollen, aber
hier —« ich stecke ihr ein Geldstück in die Hand; sie scheint
es nicht zu bemerken.
»Ach sagen Sie doch nicht —-
»Was denn?«
»Ach sagen Sie doch nicht, dass — dass ich das Kind
bei mir habe.«
»Ja, wissen denn das die Andern nicht?«
»Nein, nein — ach um Gotteswillen nicht; sie würden
Alle lachen, und ich möcht’s doch so gerne bei mir haben
und satt machen.«
»Ist Ihr Mann auch hier bei dem Bau beschäftigt?«
»Ich — ich hab’ ja gar keinen.« Verwirrt streicht sie sich
die Haarsträhne aus dem Gesicht und wiegt das Kind leise im
Arm hin und her. »Es ist so gut und brav und schreit gar
nicht so viel, wie Andere«, sagt sie wie entschuldigend. »Zu
Hause ist kein Mensch, der nach ihm seh’n würd’, und hier,«
sie deutet in den halbdunkeln Schuppen, »hier hat’s so gute
Luft und es kommt Keiner her.«
»Aber wie machen Sie’s denn, dass das Kind nicht gesehn
wird, wenn Sie herkommen und fortgehen?«
Sie lachte leise vor sich hin und sagte dann verschmitzt
und wichtig:
»Ja, wissen Sie, ich hab’ immer so ein grosses Tuch um
und sie haben schon so viel gelacht, dass ich mich bei der
Hitz’ so einwickle. Und Abends können wir uns manchmal
ein Stück altes Holz mitnehmen, da merken sie schon gar
nicht, dass ich das Kind bei mir hab’. Das machen wir ganz
geschickt, nicht wahr, mein gold’ner Schatz?« Sie nickte dem
Kind glückselig zu.
Ich fahre dem armen Wurm liebkosend über’s Gesicht,
was die Frau ganz glücklich zu machen scheint, gebe ihr
meine Adresse mit der Weisung, sie solle sich an mich wen-
den, wenn sie etwas brauchen sollte, und gehe fort. —
— Ich trat eine grössere Reise an und kehrte im Spät-
herbst zurück. Als ich zu Herrn Architekt Wenden ging,
hörte ich, dass die betreffende Wohnung vermiethet wäre. Es
war meine Schuld, ich hätte mich früher melden sollen; aber
ich konnte nicht umhin, mein Bedauern auszudrücken.
»Wie schade! Es waren schöne Räume; und dann der
Gar . . .
Plötzlich sah ich vor mir die Frau mit dem Kinde auf
dem Schoosse. Ich hatte sie längst vergessen.
»Ach, verzeihen Sie . . ., können Sie mir nicht sagen,
wo eine Frau« — ich beschrieb sie näher — »die auf Ihrem
Bau arbeitete, geblieben ist?«
»Bedaure unendlich. Ich habe mit den Leuten selbst
nichts zu thun und kenne sie persönlich so gut wie gar nicht.
Das ist Sache des Bauführers. Wünschen Sie seine Adresse?»
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JUGEND
Nr. 5
,! f !. t
Geschöpfchen mit dem greisenhaften Gesicht Nahrung zu
spenden. Mater dolorosa in elendester Gestalt!
Leise will ich ihr ein Geldstück in den Schooss legen,
da fährt sie jäh in die Höhe und starrt mich mit weit ge-
öffneten Augen an, das Kind, das zu schreien anfangen will,
krampfhaft an sich drückend.
»Liebe Frau, ich habe Sie nicht stören wollen, bleiben
Sie ruhig sitzen!«
»Ach Gott, ach Gott, was bin ich erschrocken!« Sie sagt
es fast athemlos.
»Aber warum denn, ich thue Ihnen Nichts zu Leide; ich
gehe schon wieder, habe nur den Garten beseh’n wollen, aber
hier —« ich stecke ihr ein Geldstück in die Hand; sie scheint
es nicht zu bemerken.
»Ach sagen Sie doch nicht —-
»Was denn?«
»Ach sagen Sie doch nicht, dass — dass ich das Kind
bei mir habe.«
»Ja, wissen denn das die Andern nicht?«
»Nein, nein — ach um Gotteswillen nicht; sie würden
Alle lachen, und ich möcht’s doch so gerne bei mir haben
und satt machen.«
»Ist Ihr Mann auch hier bei dem Bau beschäftigt?«
»Ich — ich hab’ ja gar keinen.« Verwirrt streicht sie sich
die Haarsträhne aus dem Gesicht und wiegt das Kind leise im
Arm hin und her. »Es ist so gut und brav und schreit gar
nicht so viel, wie Andere«, sagt sie wie entschuldigend. »Zu
Hause ist kein Mensch, der nach ihm seh’n würd’, und hier,«
sie deutet in den halbdunkeln Schuppen, »hier hat’s so gute
Luft und es kommt Keiner her.«
»Aber wie machen Sie’s denn, dass das Kind nicht gesehn
wird, wenn Sie herkommen und fortgehen?«
Sie lachte leise vor sich hin und sagte dann verschmitzt
und wichtig:
»Ja, wissen Sie, ich hab’ immer so ein grosses Tuch um
und sie haben schon so viel gelacht, dass ich mich bei der
Hitz’ so einwickle. Und Abends können wir uns manchmal
ein Stück altes Holz mitnehmen, da merken sie schon gar
nicht, dass ich das Kind bei mir hab’. Das machen wir ganz
geschickt, nicht wahr, mein gold’ner Schatz?« Sie nickte dem
Kind glückselig zu.
Ich fahre dem armen Wurm liebkosend über’s Gesicht,
was die Frau ganz glücklich zu machen scheint, gebe ihr
meine Adresse mit der Weisung, sie solle sich an mich wen-
den, wenn sie etwas brauchen sollte, und gehe fort. —
— Ich trat eine grössere Reise an und kehrte im Spät-
herbst zurück. Als ich zu Herrn Architekt Wenden ging,
hörte ich, dass die betreffende Wohnung vermiethet wäre. Es
war meine Schuld, ich hätte mich früher melden sollen; aber
ich konnte nicht umhin, mein Bedauern auszudrücken.
»Wie schade! Es waren schöne Räume; und dann der
Gar . . .
Plötzlich sah ich vor mir die Frau mit dem Kinde auf
dem Schoosse. Ich hatte sie längst vergessen.
»Ach, verzeihen Sie . . ., können Sie mir nicht sagen,
wo eine Frau« — ich beschrieb sie näher — »die auf Ihrem
Bau arbeitete, geblieben ist?«
»Bedaure unendlich. Ich habe mit den Leuten selbst
nichts zu thun und kenne sie persönlich so gut wie gar nicht.
Das ist Sache des Bauführers. Wünschen Sie seine Adresse?»
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