Nr. 5
JUGEND
1896
Das Mädchen führte mich
in eine niedrige Kammer und
machte die Thüre hinter mir zu.
Ein winziges Fenster warf sein
spärliches Licht über grauge-
tünchte Wände. Vor mir in einem
ärmlichen, aber mit sauberen,
buntgewürfelten Bezügen ver-
sehenen Bett lag die Frau. Sie
richtete sich in den Kissen auf.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, liebe Frau; ken-
nen Sie mich nicht mehr?«
»Ach Gott — Sie!«
»Sie sind krank? Was fehlt
Ihnen?«
»Ach, ich hab’s so auf der
Brust; es wird bald aus sein.«
»Aber warum schickten Sie
nicht zu mir? Ich gab Ihnen
doch meine Adresse?«
»Das hätt’ ich doch nicht
getraut; ich brauch’ auch jetzt
nichts mehr.«
Ich sah mich um. »Wo ist
denn Ihr Kind?«
»Das ist todt.« Sie sagte es
vollkommen ruhig. »Ich hätt’s
auch nicht mehr mitnehmen
können; die bei dem Bau hät-
ten’s nicht gelitten. Sie haben’s doch gemerkt und der Weber-
Joseph hat mich vor Allen ausgeschimpft und geschlagen.«
Mir kam ein sonderbarer Gedanke. »War es — war es
der Vater?«
»Ja freilich.«
»Und da schlug er Sie?«
»Ja! Er hat sich doch so geschämt.« Sie sagte das, als
wäre es selbstverständlich.
»Wussten die Andern, dass er der Vater war?«
»Um Jesu willen, nein! Ich glaub’, dann hätt’ er mich
todtgemacht. Er war so bös, dass ich auf demselben Bau
gearbeitet hab’! Aber ich hab’vorher gar nicht gewusst, dass
er dort war, sonst hätt’ ich mich doch nicht gemeldet.«
Ich setzte mich zu ihr. »Wie alt sind sie denn eigentlich?«
Vierundzwanzig Jahr.«
Sie sah aus, als wäre sie mindestens vierzig Jahre. »Aber
das ist doch nicht möglich!«
»Ja, ich war 'mal ganz hübsch, aber ich hab’ viel hungern
und frieren müssen.«
Sie schien sehr erschöpft und lehnte sich in die Kissen
zurück. Nach einer Pause richtet sie sich wieder auf, nimmt
meine Hand, sie leise streichelnd.
»Ich möcht’ so gerne« — sie wird wieder still wie vordem.
Dann nach einer Weile:
»Ich möcht’ so gerne — ich ich trau’s nicht zu sagen.«
»So sagen Sie’s nur; wenn Sie einen Wunsch haben, ich
will ihn gerne erfüllen.«
»Ich — ich fürcht’ mich so vor — vor dem Frieren, und
jetzt ist es doch bald Winter, da muss es so kalt sein draussen
auf dem Kirchhof. Und ich sterb’ ja jetzt bald. Da möcht’
ich so schrecklich gerne einen warmen Unterrock angezogen
bekommen, eh’ ich ’rausgetragen werde.«
Sie sieht mit einem Ausdruck zu mir auf, scheu und bittend
wie ein geschlagener Hund.
»So — so; na, das ist doch keine grosse Sache; das werde
»Ich bitte darum.«
Ich erfuhr Namen und Wohnung der Frau und machte
mich auf den Weg.
Es war eine abscheuliche Miethkaserne, in der ich, auf
jedem Treppenabsatz nach dem Namen spähend, endlich bis
in den fünften Stock gelangte. Eine Thür stand offen; ich
sah eine dicke Frau an einem Waschbottich, ganz in Dunst-
wolken eingehüllt, die aus der heissen Wäsche aufstiegen.
Am Boden wälzten sich drei oder vier Kinder. Sie sah mich
mit runden Augen verwundert an, als ich plötzlich vor ihr
stand und hielt mit dem Waschen inne.
Ich fragte nach der armen Frau.
»Ach die!« Sie verzog geringschätzig den Mund und strich
sich den Seifenschaum von den Armen herunter; »die wohnt
unten im Keller!«
Ich stieg die fünf Treppen wieder herunter und dann die
sechste in den Keller.
Im Halbdunkel tastete ich nach einer Thür und klopfte.
Sie wurde aufgerissen. Eine dicke Luft, gemischt mit dem
Essengeruch strömte mir entgegen, und vor mir stand ein
Mädchen von ungefähr achtzehn Jahren mit verwildertem Haar
und Anzug und frechem Gesichtsausdruck.
»Was wollen denn Sie?«
Ich brachte mein Anliegen vor.
»Jessas! Die Theres wollen Sie sprechen. Ach, da schau
her! Na, da gehn’s nur ’nein.«
Ich ging durch die Stube; etwa sechs Leute, Männer und
Weiber verschiedenen Alters, sassen am Tisch und assen.
Sie sahen mich stumpfsinnig an und erwiderten meinen Gruss
kaum.
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JUGEND
1896
Das Mädchen führte mich
in eine niedrige Kammer und
machte die Thüre hinter mir zu.
Ein winziges Fenster warf sein
spärliches Licht über grauge-
tünchte Wände. Vor mir in einem
ärmlichen, aber mit sauberen,
buntgewürfelten Bezügen ver-
sehenen Bett lag die Frau. Sie
richtete sich in den Kissen auf.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, liebe Frau; ken-
nen Sie mich nicht mehr?«
»Ach Gott — Sie!«
»Sie sind krank? Was fehlt
Ihnen?«
»Ach, ich hab’s so auf der
Brust; es wird bald aus sein.«
»Aber warum schickten Sie
nicht zu mir? Ich gab Ihnen
doch meine Adresse?«
»Das hätt’ ich doch nicht
getraut; ich brauch’ auch jetzt
nichts mehr.«
Ich sah mich um. »Wo ist
denn Ihr Kind?«
»Das ist todt.« Sie sagte es
vollkommen ruhig. »Ich hätt’s
auch nicht mehr mitnehmen
können; die bei dem Bau hät-
ten’s nicht gelitten. Sie haben’s doch gemerkt und der Weber-
Joseph hat mich vor Allen ausgeschimpft und geschlagen.«
Mir kam ein sonderbarer Gedanke. »War es — war es
der Vater?«
»Ja freilich.«
»Und da schlug er Sie?«
»Ja! Er hat sich doch so geschämt.« Sie sagte das, als
wäre es selbstverständlich.
»Wussten die Andern, dass er der Vater war?«
»Um Jesu willen, nein! Ich glaub’, dann hätt’ er mich
todtgemacht. Er war so bös, dass ich auf demselben Bau
gearbeitet hab’! Aber ich hab’vorher gar nicht gewusst, dass
er dort war, sonst hätt’ ich mich doch nicht gemeldet.«
Ich setzte mich zu ihr. »Wie alt sind sie denn eigentlich?«
Vierundzwanzig Jahr.«
Sie sah aus, als wäre sie mindestens vierzig Jahre. »Aber
das ist doch nicht möglich!«
»Ja, ich war 'mal ganz hübsch, aber ich hab’ viel hungern
und frieren müssen.«
Sie schien sehr erschöpft und lehnte sich in die Kissen
zurück. Nach einer Pause richtet sie sich wieder auf, nimmt
meine Hand, sie leise streichelnd.
»Ich möcht’ so gerne« — sie wird wieder still wie vordem.
Dann nach einer Weile:
»Ich möcht’ so gerne — ich ich trau’s nicht zu sagen.«
»So sagen Sie’s nur; wenn Sie einen Wunsch haben, ich
will ihn gerne erfüllen.«
»Ich — ich fürcht’ mich so vor — vor dem Frieren, und
jetzt ist es doch bald Winter, da muss es so kalt sein draussen
auf dem Kirchhof. Und ich sterb’ ja jetzt bald. Da möcht’
ich so schrecklich gerne einen warmen Unterrock angezogen
bekommen, eh’ ich ’rausgetragen werde.«
Sie sieht mit einem Ausdruck zu mir auf, scheu und bittend
wie ein geschlagener Hund.
»So — so; na, das ist doch keine grosse Sache; das werde
»Ich bitte darum.«
Ich erfuhr Namen und Wohnung der Frau und machte
mich auf den Weg.
Es war eine abscheuliche Miethkaserne, in der ich, auf
jedem Treppenabsatz nach dem Namen spähend, endlich bis
in den fünften Stock gelangte. Eine Thür stand offen; ich
sah eine dicke Frau an einem Waschbottich, ganz in Dunst-
wolken eingehüllt, die aus der heissen Wäsche aufstiegen.
Am Boden wälzten sich drei oder vier Kinder. Sie sah mich
mit runden Augen verwundert an, als ich plötzlich vor ihr
stand und hielt mit dem Waschen inne.
Ich fragte nach der armen Frau.
»Ach die!« Sie verzog geringschätzig den Mund und strich
sich den Seifenschaum von den Armen herunter; »die wohnt
unten im Keller!«
Ich stieg die fünf Treppen wieder herunter und dann die
sechste in den Keller.
Im Halbdunkel tastete ich nach einer Thür und klopfte.
Sie wurde aufgerissen. Eine dicke Luft, gemischt mit dem
Essengeruch strömte mir entgegen, und vor mir stand ein
Mädchen von ungefähr achtzehn Jahren mit verwildertem Haar
und Anzug und frechem Gesichtsausdruck.
»Was wollen denn Sie?«
Ich brachte mein Anliegen vor.
»Jessas! Die Theres wollen Sie sprechen. Ach, da schau
her! Na, da gehn’s nur ’nein.«
Ich ging durch die Stube; etwa sechs Leute, Männer und
Weiber verschiedenen Alters, sassen am Tisch und assen.
Sie sahen mich stumpfsinnig an und erwiderten meinen Gruss
kaum.
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