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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 1 (Nr. 1-26)

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Nr. 5 (1. Februar)
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Nr. 5

JUGEND

1896

2>IE SORGE <

VOLKS MÄ-RC HEN aus'
dem RUSSISCHEN.

1s waren einmal zwei Brü-
der, die in verschiedenen
Dörfern lebten. Der eine
war sehr reich, hatte einen
grossen Bauernhof und
J viele Säcke mit Gold. Der
andere aber war arm und
arbeitete im Tagelohn.

Einmal gab der Reiche
ein grosses Fest und lud
alle seine Nachbarn zu
einem Gastmahl. Da ging
auch der arme Bruder hin
und sagte zum reichen:
„Brüderchen, Du feierst
heute ein grosses Fest.
Wenn Du mich doch mit
etwas »braschka« *) be-
wirthen wolltest!“

„Mit »braschkaU“ sagte
der andere, „dort in dem
Eimer ist »braschka«, so
viel Du willst, trink!“

Es war aber nur Wasser.
Der arme Bruder trank
sich an dem Wasser satt,
ging nach Hause und sang
sich unterwegs Lieder vor. Da hörte er, dass jemand mit ihm
sang und fragte:

„Wer singt denn da?“

„Nun, ich!“ antwortete es.

„Wer bist denn Du?“

„Ich bin die Sorge.“

„Wohin gehst Du denn?“

„Ich gehe mit Dir.“

„Aber ich“, sagte der Arme, „werde jetzt sterben, sobald
ich zu Hause bin.“

Zu Hause angekommen, zimmerte er sich einen Sarg zu-
recht, und als der fertig war, sagte er:

„Du Sorge, lege Du Dich zuerst hinein!“

Darauf fragte er: „Sorge, Sorge, bist Du drin?“

Und die Sorge antwortete: „Ja, ich bin schon da!“

Da machte er schnell den Deckel zu, trug den Sarg auf
den Kirchhof und begrub ihn mitsammt der Sorge. Von der
Stunde fing er an, reich zu werden.

Das hörte der Bruder und wurde neidisch.

„Wodurch ist er nur so reich geworden?“ dachte er.
Und er ging zum Bruder und fragte ihn: „Sage mir,
lieber Bruder, wie hast Du es angefangen, so reich zu werden?“
„Entsinnst Du Dich vielleicht“, antwortete dieser, „des
Festes, an dem Du mich mit V^asser statt mit »braschka«
bewirthetest? Ich trank von dem Wasser, und wurde betrun-
ken, und auf dem Rückwege sang ich Lieder und hörte je-
manden mitsingen. »Wer singt da mit mir?- fragte ich. Je-
mand antwortete: »Ich!« — »Wer bist denn Du?« »Ich bin
die Sorge!*“ —

*) Ein ländliches Bier.

„Wo hast Du die Sorge denn hingethan?“ fragte der
Reiche.

„Ich habe sie in einen Sarg gelegt und begraben“.

Da packte den Reichen ein schrecklicher Neid, und~er
ging auf den Kirchhof, grub den Sarg aus' und rief:

„Sorge, Sorge bist Du da?“

Die Sorge war schon halb todt und wimmerte ganz
schwach:

„Ja!“

Da sagte er zu ihr, indem er den Deckel abnahm:

,Ich lasse dich heraus aus dem Sarg. Dafür sollst Du
zu meinem Bruder zurückgehen. Er ist reich geworden seit
Du weg warst.“

Da schüttelte sich die Sorge und antwortete:

„Nein, ich danke, da gehe ich lieber mit Dir mit, sonst
bringt mich der noch ganz um!“

Und sie ging mit ihm.

Da wurde der Reiche arm. -—

Aber der, der die Sorge begraben hatte, lebt mit Gottes
Hilfe heute noch im Wohlstand. — e. u. s.

Tagebuchnotizen eines aktiven Politikers.

Wenn eine Hand die andere wäscht, werden beide in
der Regel noch schmutziger.

Das Geld fällt nicht vom Himmel, man muss es sich
erst mühsam aus den Taschen seiner Nebenmenschen holen.

Ich lebe von den Händen Anderer in meinen Mund.

Doppelt nimmt, wer schnell nimmt.

Makellosigkeit ist manchmal ein sehr gutes Geschäft.

Man kann Talent haben und doch Carriere machen.

Wenn Du mit der rechten Hand einsteckst, musst Du
die linke betheuernd an’s Herz legen.

Sei immer ehrlich! Desto theurer wird man Dich bezahlen
müssen. Ludwig Bauer.

So
Register
E. U. S.: Die Sorge. Volksmärchen aus dem Russischen
Julius Diez: Ornamentzeichnungen
Ludwig Bauer: Tagebuchnotiz eines aktiven Politikers
 
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