Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 6

JUGEND

1896

Paul Verlaine f.

Paris, Januar.

Ein Dichter ist hingeschieden, wie Frankreich
keinen zweiten hat, ein echter Lyriker in diesem
Lande, wo das blaue Blümlcin der Lyrik so spärlich
spriesst. Paul Verlaine ist für immer in den Seelen-
frieden eingegangen, nach dem er hienieden vergeblich
rang, da der Sinnenrausch ihn immer wieder über-
mannte und gewaltsam niederzwang. Nur zwei Stätten
auf Erden gewährten ihm den Vorgeschmack des ewi-
gen Friedens, den er ersehnte: das Spital und das
Gefängniss. Er war nach unsern Begriffen ein Pech-
vogel. Selber klagte er über den Unstern, der die Welt
nicht zu ihm, oder ihn nicht zur Welt passen Hess.

Suis-je n6 trop tot ou tard?

Qu’est-ce que je fais dans le monde?

Aber ein Strahl der Gottesgnade fiel in das Düster
seines Schicksals und durchglühte sein Gemüth. Seine
Seelenkämpfe verklärten sich in Poesie. Was er in
Leiden klagte, was er im Sinnenglück jubelte, geht
vom Herzen zum Herzen. Unter allen Lyrikern des
neuzeitigen Frankreichs schlug er den innigsten Ton an.

Paul Verlaine war am 30. März 1844 in Metz ge-
boren. Er verlebte eine sonnige Jugend im Eltern-
hause, studirte dann die Rechte in Paris, verheirathete
sich früh aus Liebe und schien, da es ihm an Wohl-
stand nicht fehlte, zu einem bürgerlich regelrechten,
glücklichen Dasein bestimmt. In Studienjahren dich-
tete er seine «Poemes saturniens», die den Dichter
von Gottes Gnaden noch nicht voraussehen Hessen.

Die «Fötes galantes», die etwas später erschienen,
zeigten ihn als Mitglied der „parnassischen Gruppe“,
der Poeten, die mit Theodore de Banville, Leconte
de Lisle, Catulle Mendös, Franqois Coppee und Sully
Prudhommc vor Allem die Formvollendung und den
Wohllaut des Verses anstrebten und ihren hauptsäch-
lichen Vorgänger in 1 heophile Gautier hatten.

Verlaine war damals schon Meister der Form; die
seelische Vertiefung sollte ihm erst unter Schmerzen
kommen.

Mitten in seinem bürgerlichen Glück und seinen
ersten dichterischen Erfolgen, überkam ihn ein dia-
bolischer Sinnenrausch. Dazu war er durch die Com-
mune 1871 politisch compromittirt, flüchtete nach Bel-
gien — und die Folge war: zweijähriges Gefängniss.

In der stillen Zelle kam er zur Besinnung und
hielt innere Einkehr. Dort schuf er das Hauptwerk
seines Lebens, die Gedichte, die er später unter dem

Titel «Sagesse» herausgab. An schlichter Innigkeit
stehen sie in der französischen Literatur, wo Esprit
und Rhetorik allgemein die Herzensregung über-
wuchern, einzig da. Der rührende Ton der Volks-
poesie, der Aufschwung mystischer Frömmigkeit, die
Zerknirschung des reuigen Sünders, die sanfte Schwer-
muth der Weltverlassenheit, — alles dies klingt er-
greifend in seinen Dichtungen zusammen. Dazwischen
mischt sich der Galgenhumor des Strafgefangenen,
dessen Probe wir der zweiten Sammlung der Verlaine-
schen Gefängniss-Dichtungen entlehnen:

Allons, freres, bons vieux voleurs,

Doux vagabonds,

Filous en fleur,

Mes chers, mes bons,

Fumons philosophiquement
Promenons-nous
Paisiblement:

Rien faire est doux.

Verlaine hatte mit seinem bösen Streiche alles
bürgerliche Glück, auch das Glück seiner Ehe ver-
spielt. Frau und Kind lebten fortan von ihm getrennt.
Sein Sohn wuchs auf, ohne den Vater zu kennen, dessen
Tod er jetzt erst durch die Zeitungen erfahren hat,
denn keiner der Freunde des Dichters, die an dem
Sterbebette standen, wusste, wo er sich aufhielt.

Eine Zeit der inneren Ruhe genoss Verlaine in
Freiheit noch bei seiner Mutter auf einem Bauern-
höfe in den Ardennen. Dann kam die Armuth: das
Gütchen wurde verkauft. Der Dichter zog mit seiner
Mutter nach Paris, die Mutter starb, und Verlaine
stand allein auf dem Pflaster der Grossstadt, bei Jahren
zwar schon, doch anHcrzenseinfaltein Kind, ein grosses,
herzensgutes und doch ungerathenes Kind.

Mit den Entbehrungen kam die Krankheit. Im
Leben des Poeten waren fortan die Wochen und Monate,
die er im Spital verbrachte, die glücklichsten. Philo-
sophisch fügte er sich in sein Schicksal und scherzte
darüber. Wenn im Sommer die elegante Welt die
Stadt verliess, pflegte er zu sagen: „Nach dem Grand
Prix kann man wirklich nicht anständigerweise mehr
in Paris bleiben. Ich trete meine Saison in Broussais
an.“ Das Hospital Broussais war sein Lieblingskranken-
haus. Wenn er im Sommer schon seine „Saison“
antrat, so pflegte er den Winter erst recht dort zu
verbringen.

Indessen hatten sich seine Werke, die lange nur
im engeren Kreise literarischer Feinschmecker ge-
schätzt worden waren, Bahn zum grossen Publikum
gebrochen.

86
Register
Theodor Hermann Schmuz-Baudiß: Vignette
[nicht signierter Beitrag]: Paul Verlaine †
 
Annotationen