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Nr. 8

JUGEND

1896

Von Jakob Wassermann.

Ich sass an einem schönen Herbstabend fröstelnd im Wart-
saal einer kleinen Station, einige Stunden nördlich der Stadt,
als meiner Einsamkeit durch das Erscheinen eines breitschulter-
igen, muskulösen Fremden ein Ende bereitet wurde. Seufzend
stellte der Ankömmling seinen Koffer auf einen der Tische
und rieb sich die erstarrten Finger, während er mit schweren,
wuchtigen Schritten auf und ab ging. Ich fand es leicht, mit
dem Fremden ein Gespräch anzuknüpfen, und da ich mich
gelangweilt hatte, war mein Benehmen um so liebenswürdiger.
Person und Wesen meines neuen Bekannten schienen mir den
Stempel der Nüchternheit und Alltäglichkeit zu tragen; aber
bald fiel mir in seinem Mienen- und Geberdenspiel jene Ner-
vosität auf, die man sonst nur bei Künstlern findet; auch Hessen
mich einige absichtlich räthselvolle Anspielungen auf ein selt-
sames Schicksal schliessen. Ich wurde neugierig und gleich-
wie ich es mühelos gefunden hatte, das Gespräch in Gang
zu bringen, traf auch die Befriedigung meiner Neugierde auf
wenig Hindernisse. Ja, es schien, als suchte der Fremde eine
Aussprache, und es war mir, als gewahrte ich ein Lächeln der
Befriedigung auf seinen Lippen, als unser Gespräch so weit
gediehen war, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder
jenes vielsagende Verstummen, das den Sturm schwerer Ge-
danken verräth, oder den offenen Bericht der Schicksale. Mein
neuer Bekannter wählte das Letztere und da es bis zur Ankunft
des fahrplanmässigen Zugs noch lange dauerte, begann er also:

„Wie Sie mich hier sehen, komme ich direkt aus dem
Irrenhaus. Erschrecken Sie nicht, ich bin nicht entsprungen.

Erschreckend ist nur das Schicksal, das mich
dahin brachte. Nun, ich verdanke es einer ein-
zigen Nacht, die mich nicht nur auf siebenundzwanzig
Monate in Wahnsinn stürzte, sondern mich auch in ein
langes Siechthum warf, mich meinem Beruf und meiner Fa-
milie raubte und viele, viele Hoffnungen zerstörte. Hören Sie.

„Vor zwei Jahren war ich an einer staatlichen Anstalt im
badischen Freiburg als Lehrer der Naturwissenschaften ange-
stellt. Die wilde Poesie des Schwarzwalds fesselte mich täglich
mehr und riss mich zu einer Begeisterung hin, wie ich sie
vorher der Natur gegenüber noch nicht empfunden hatte.
Die Berge ringsum scheinen die Stadt zu umarmen; sie scheinen
die Menschen in Gefangenschaft zu halten und fast in alle
Strassen blickt ein Stück des düsteren Bergforsts herein.

„Genug davon; da ich viel freie Zeit hatte, war mir bald
kein Ort der Umgebung mehr fremd. Eines Tages war ich
nebst vier jungen Leuten von dem Sohn eines reichen Indu-
striellen zur Theilnahme an einer Jagdpartie aufgefordert
worden. Gegen sechs Uhr Nachmittags marschirten wir lach-
end und scherzend, denn diese Gesellschaft bildete meinen
täglichen Verkehr, nach St. Valentin hinaus. Wir wollten dort
übernachten, um bei Tagesanbruch gleich auf dem Anstand
zu stehen.

„St. Valentin liegt in einer gelichteten Thalsenkung mitten
im Wald. Es besteht aus dem einzigen Häus’chen des Forst-
warts, und Tag und Nacht, Sommer und Winter herrscht hier
der tiefe Frieden eines weltfernen Winkels. An drei Seiten
steigt der Wald empor; nur in der Richtung nach der fernen
Landstrasse zieht sich eine Mulde hinab gleich dem vertrock-
neten Bett eines Baches. — Wir Hessen uns an einem der
Tische des kleinen Hausgartens nieder; der Waldhüter be-
grüsste uns mit jener biederen Herzlichkeit, welche den
Schwarzwäldlern eigen ist.

„Schon begann die Sonne hinabzusinken; wir sahen sie
freilich nicht, aber die Baumkronen schienen geblendet in die
überwältigende Gluth des Firmaments zu blicken. Ueber uns
lag ein mattblaues Stück Abendhimmel, und wenn man lange
hinaufstarrte, konnte man das fahle Funkeln winziger Sterne
gewahren. Der letzte Windhauch war entschlummert, aus den
Tiefen des Waldes schaute uns die Dämmerung entgegen wie
mit lebenden Augen. Der Ruf eines Kärrners schallte bis-
weilen von der Chaussee herauf, verschleiert wie durch Mauern.
Wir alle waren still geworden; die einen aus Müdigkeit und
Stumpfheit, die andern wie in der halbbewussten Empfindung
eines Geheimnisses rings um sie, für dessen Wahrnehmung
sie sonst blind gewesen.

„Eine Purpurfluth stieg längs der Mulde herauf und die
braunen, rissigen Stämme färbten sich durchscheinend roth,
als wären sie im Feuer vergoldet. Das Moosgrün, das Grün
der Blätter, des Grases schien satter, blendender, glühender,
und dabei wurden wir alle bedrückt von der Dunkelheit, die
im Walde schlief, und die uns wie etwas Körperliches er-
schien, in dessen Willen es stand sich zu bewegen, sich über
uns zu stürzen wie ein Raubthier und uns zu vernichten.
Ich glaube fest, dass fast alle Andern dieses Gefühl mit mir
theilten: wie wenn es nun in der Macht des grossen, weithin-
gedehnten Waldes läge, sich zu rächen für all die Frevel, die
wir an seinen Geschöpfen verübt.

„Nun fing ein Kukuk an zu rufen. In Pausen von zehn bis
zwanzig Sekunden erklang sein lockender, etwas schmeichler-

Finsterniss.

118
Register
Theodor Hermann Schmuz-Baudiß: Zierleiste
Jakob Wassermann: Finsterniss
 
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