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Nr. 8

JUGEND

1896

hielten; ihr lichtstrahlendes Haupt umschwebten sieben
Tauben, als Sinnbild der sieben Gaben des hl. Geistes, so
da sind: die Gabe der Weisheit, des Verstandes, des Raths,
der Stärke, der Wissenschaft, der Frömmigkeit und der Furcht.
Ihr zur Seite standen sechs goldhaarige Jungfrauen: Demuth,
Klugheit, Einsamkeit, Ehrerbietung, Keuschheit und Gehorsam.

Ihr zu Füssen knieten zwei kleine, nackte, ganz weisse
Gestalten mit flehender Geberde: das waren Seelen, die für ihr
ewiges Heil eifrig und gewiss nicht umsonst ihre allmächtige
Fürsprache erbaten.

Auf einem anderen Blatte stellte der Bruder Alexander
unsere Mutter Eva dar im Angesicht Mariä, auf dass man zu
gleicher Zeit die Sünde und die Erlösung, das gefallene Weib
und die verklärte Jungfrau erblicke. In diesem Buch war
sonst noch mancherlei zu sehen: so die lebendige Quelle, der
Brunnen, die Lilie, der Mond, die Sonne und der ver-
schlossene Garten, von dem der Psalmist singt, das Himmels-
thor und die Stadt Gottes und waren das lauter Sinnbilder
der heiligen Jungfrau.

Auch der Bruder Marbod war einer von Mariä Lieblingen.
Ohne Unterlass meisselte er Bilder aus Stein, so dass sein Bart,
seine Brauen und sein Haar ganz weiss bestaubt und seine
Augen stets geschwollen und thränend waren; aber trotz seiner
hohen Jahre war er frohen Muthes und die Himmelskönigin
beschützte sichtbarlich den Lebensabend ihres Kindes. Mar-
bod stellte sie auf einem Thron sitzend dar, das Haupt umgeben
von einem perlengeschmückten Heiligenschein. Er war sorg-
fältig darauf bedacht, dass die Falten des Gewandes ihre Füsse
bedeckten, eingedenk der Worte des Propheten: »Meine Ge-
liebte ist wie ein verschlossener Garten«. — Manchmal trug
sie auch die Züge eines anmuthigen Kindes und schien zu
sagen: »Siehe, ich bin eine Dienerin des Herrn«.

Es fehlte in dem Kloster auch nicht an Poeten, die in

lateinischer Sprache, in Prosa und Dichtung, der gebenedeiten

Jungfrau Maria zu Ehren Loblieder verfassten, und es befand
sich dortselbst sogar ein Picarde, der die Wunderthaten unserer
lieben Frau in der Sprache des Volkes und in gereimten Versen
besang.

III.

Als er eine solche Fülle von Huldigungen und eine so
grosse Reihe schöner Werke erschaute, grämte sich Barnabö
über seine Einfalt und Unwissenheit. —

»Ach«, seufzte er, wenn er einsam in dem schattenlosen
Klostergärtlein umherwandelte, »ich bin recht elend, dass
ich nicht wie meine Brüder vermag, die heilige Gottesmutter
würdig zu preisen, der mein Herz doch so'inniglich zugethan
ist! Ach, ich bin ein unbeholfener und ungeschickter Gesell
und habe zu Deiner Verherrlichung, o gebenedeite Jungfrau,
nichts darzubringen; weder erbauliche Predigten und wohl-
geordnete Abhandlungen, noch feine Malereien; weder sorg-
fältig gemeisselte Bildwerke, noch Verse mit abgezählten
Füssen und rhythmisch gemessenem Gang. Ich allein habe
Dir nichts zu bieten, nichts!«

So seufzte er und überliess sich der Traurigkeit. Da
hörte er eines Abends, als die Brüder sich plaudernd im
Garten ergingen, wie einer von ihnen die Geschichte eines
Mönches erzählte, der nichts anderes konnte und wusste als
das Ave Maria und ob dieser seiner Unwissenheit verachtet
war; als er aber gestorben, sprossen aus seinem Munde fünf
Rosen hervor, zu Ehren der fünf Buchstaben Mariä, und seine
Heiligkeit ward somit offenkundig dargethan.

Als Barnabö dieser Erzählung lauschte, erfüllte ihn die Güte
der heiligen Jungfrau auf’s Neue mit Bewunderung; aber er
fühlte sich nicht getröstet durch das Beispiel dieses glückseligen
Todes, denn sein Herz war voll des Eifers und er wollte etwas
beitragen zum Ruhme seiner himmlischen Geliebten.

Umsonst sann er auf Mittel und Wege und versank von
Tag zu Tag mehr in Betrübniss. Doch eines Morgens erwachte
er fröhlich und guter Dinge, lief in die Kapelle und blieb dort
allein länger als eine Stunde. Auch nach dem Mittagsmahl be-
gab er sich wieder dorthin.

Und so ging er von Stund an täglich in die Kapelle, zur
Zeit, da sie verlassen war, und verweilte dort einen grossen
Theil der Zeit, welche die andern Mönche den schönen Künsten
und sonstigen Arbeiten widmeten. Er war nicht mehr traurig
und seufzte nicht mehr.

Ein so sonderbares Gebahren erweckte die Neugier der
Mönche und man fragte sich in der Bruderschaft, was wohl die
häufige Abwesenheit Barnabe’s zu bedeuten habe. Der Prior,
der im Verhalten seiner Mönche nicht unbemerkt lassen darf,

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