Nr. 16
* JUGEND
1896
Pariser Mode
Paris, Anfang April.
Leise zieht durch mein Gemüth
Liebliches Geläute —
Mein kleines Frühlingslied gilt den
Neuigkeiten, die uns der Lenz bringt, vor
Allem den Stoffen, in denen sich der
Jugendglanz des Jahres mit Sonnenstrah-
len, spriessendem Grün und Blumenflor
verwebt. Die Losung des Tages ist Uni!
Aber welchen Reichthum der Nuancen
entfalten die neuen Unis, und welche Far-
benakkorde von überraschender, zarter
Harmonie lassen sich ihrer Tonleiter ent-
lehnen!
Für die noch kühle Uebergangssaison
haben wir die seidenweichen Mohairs, deren
Faltenwurf so elegant und mollig fällt; so-
dann die Alpagos; die einen wie die andern
vorzugsweise gesprenkelt oder getippelt,
die Alpagos auch glacirt, wie sie schon
im vorigen Sommer waren, doch in neuen
reicheren Nuancen. An Rauhreif, der in
der Märzsonne glitzert, erinnert eine Gote
de cheval, halb Seide, halb Wolle, über-
streut wie mit Diamantstaub, die reizend-
ste Neuschöpfung auf dem Gebiet der
starkgerippten Stoffe. Die Phantasie-Che-
viottes zu Costumes tailleurs entrinnen
endlich den neutralen Tonlagen, auf die
sie sich bisher beschränkten, und ergehen
sich in frischen Farben, Wassergrün, Cre-
me, Türkisblau, Havanabraun. Wir sehen
sie auch mit Creme-Grund und
wassergrünem Oberfaden, der
kleine Quadrate bildet; auf letz-
teren oft moosartige Tupfen weis-
ser oder farbiger Wolle, zum Bei-
spiel auf vieux rose-Grund blass-
grüne Tupfen.
Für die wärmeren Tage, die uns
dieFrühlingssonne lächelnd schon
verheisst, finden wir eine Reihe
neuer durchbrochener Stoffe, die
auf Seidentransparent getragen
werden, namentlich Etamine in
Ecru. Segeltuch, nicht blos grau
und ecru, sondern auch blau, wird zujackets
gewählt und mit mächtigen Phantasieknö-
pfen garnirt. Die köstlichste Auswahl bieten
die Tennis-Stoffe, auf deren blauem, matt-
grünem, rosa-odermalvenfarbenem Grunde
leichte, seidige Wolltupfen wie Schnee-
flocken glänzen. Entzückend sind auch die
Stoffe gleicher Art, die, anstatt mit Flocken
besät, mit zarten Oberfäden, wie mit Spinn-
weben, überzogen sind. Vergessen wir nicht
die Battiste, Uni-Grund mit Erbsen, Strei-
fen, Rococoblumen oder Haarnetz, und die
Pique’s von neuen Farben, namentlich
das pique bleu Mediterrannee, das uns
mit dem Abglanz des blauen Mittelmeers
bezaubert!
Aber in unsex- kleines Frühlingslied
klingt noch ein anderer Freudenton hinein.
Was ist das liebliche Geläute? Horch’!
Es ist das Abschiedsgeläute der Glocken
rocke.
Mit den Glocken, die in der Charwoche
nach Rom fliegen, werden die robes-cloches
uns Adieu sagen — hoffentlich auf Nimmer-
wiedersehen! Sie sind weder bequem, noch
sonderlich schön, eigentlich nur ein Ver-
such, die alte Crinoline wieder einzuführen.
Ein Glück, dass der Anschlag misslungen
ist! Mit einem Male werden sie freilich
nicht verschwinden: die Mode liebt keine
brüsken Sprünge, sondern bewegt sich in
sanften Uebergängen. Die godets am Rock-
saum bilden sich in Falten und Fransen
um, die hauptsächlich nach hinten und an
der Seite liegen; vornherunter glatte Bahn.
Das Uebermass der Weite schwindet, und
der Rock kehrt zu Dimensionen zurück,
die zierlich und bequem zugleich sind.
Radiguet (Paris).
Auch der Ballon des Aermels schrumpft
zusammen. Welches Glück für uns alle,
sofern die Natur uns nicht stiefmütterlich
bedacht hat. Der Aermel schliesst sich eng
bis oben an und verräth nicht nur, sondern
zeichnet treu den zarten Linienschwung des
Armes, den die Bauschfalten bisher schnöde
verbargen. Nur der Schulteransatz behält
noch einen Rest der bisherigen Formen,
einen Tambour oder „Jockey“ aus kunst-
voll chiffonnirter Seide mit Spitzen. Am
Handgelenk wird der Aermel garnirt Spitzen-
volant oder Zacken mit Spitzen, entsprech-
end denjenigen, die auch am Kragen ge-
tragen werden.
Aber bemerken wir wohl, dass wir da
ein bischen Zukunftsmusik hören. Noch
stecken wir tief in den Glockenröcken und
Ballonärmeln, die sich in Soiree und Be-
suchstoiletten sogar breiter als jemals ma-
chen. Auf dem Ball des Präsidenten der
Republik, am 26. Februar, herrschten sie
noch vor. Indess erschienen
schon hie und da Vorläufer- >
innen der kommenden Mode,
Vorkämpferinnender ersehnten
Rockreform. , CHS „
258
* JUGEND
1896
Pariser Mode
Paris, Anfang April.
Leise zieht durch mein Gemüth
Liebliches Geläute —
Mein kleines Frühlingslied gilt den
Neuigkeiten, die uns der Lenz bringt, vor
Allem den Stoffen, in denen sich der
Jugendglanz des Jahres mit Sonnenstrah-
len, spriessendem Grün und Blumenflor
verwebt. Die Losung des Tages ist Uni!
Aber welchen Reichthum der Nuancen
entfalten die neuen Unis, und welche Far-
benakkorde von überraschender, zarter
Harmonie lassen sich ihrer Tonleiter ent-
lehnen!
Für die noch kühle Uebergangssaison
haben wir die seidenweichen Mohairs, deren
Faltenwurf so elegant und mollig fällt; so-
dann die Alpagos; die einen wie die andern
vorzugsweise gesprenkelt oder getippelt,
die Alpagos auch glacirt, wie sie schon
im vorigen Sommer waren, doch in neuen
reicheren Nuancen. An Rauhreif, der in
der Märzsonne glitzert, erinnert eine Gote
de cheval, halb Seide, halb Wolle, über-
streut wie mit Diamantstaub, die reizend-
ste Neuschöpfung auf dem Gebiet der
starkgerippten Stoffe. Die Phantasie-Che-
viottes zu Costumes tailleurs entrinnen
endlich den neutralen Tonlagen, auf die
sie sich bisher beschränkten, und ergehen
sich in frischen Farben, Wassergrün, Cre-
me, Türkisblau, Havanabraun. Wir sehen
sie auch mit Creme-Grund und
wassergrünem Oberfaden, der
kleine Quadrate bildet; auf letz-
teren oft moosartige Tupfen weis-
ser oder farbiger Wolle, zum Bei-
spiel auf vieux rose-Grund blass-
grüne Tupfen.
Für die wärmeren Tage, die uns
dieFrühlingssonne lächelnd schon
verheisst, finden wir eine Reihe
neuer durchbrochener Stoffe, die
auf Seidentransparent getragen
werden, namentlich Etamine in
Ecru. Segeltuch, nicht blos grau
und ecru, sondern auch blau, wird zujackets
gewählt und mit mächtigen Phantasieknö-
pfen garnirt. Die köstlichste Auswahl bieten
die Tennis-Stoffe, auf deren blauem, matt-
grünem, rosa-odermalvenfarbenem Grunde
leichte, seidige Wolltupfen wie Schnee-
flocken glänzen. Entzückend sind auch die
Stoffe gleicher Art, die, anstatt mit Flocken
besät, mit zarten Oberfäden, wie mit Spinn-
weben, überzogen sind. Vergessen wir nicht
die Battiste, Uni-Grund mit Erbsen, Strei-
fen, Rococoblumen oder Haarnetz, und die
Pique’s von neuen Farben, namentlich
das pique bleu Mediterrannee, das uns
mit dem Abglanz des blauen Mittelmeers
bezaubert!
Aber in unsex- kleines Frühlingslied
klingt noch ein anderer Freudenton hinein.
Was ist das liebliche Geläute? Horch’!
Es ist das Abschiedsgeläute der Glocken
rocke.
Mit den Glocken, die in der Charwoche
nach Rom fliegen, werden die robes-cloches
uns Adieu sagen — hoffentlich auf Nimmer-
wiedersehen! Sie sind weder bequem, noch
sonderlich schön, eigentlich nur ein Ver-
such, die alte Crinoline wieder einzuführen.
Ein Glück, dass der Anschlag misslungen
ist! Mit einem Male werden sie freilich
nicht verschwinden: die Mode liebt keine
brüsken Sprünge, sondern bewegt sich in
sanften Uebergängen. Die godets am Rock-
saum bilden sich in Falten und Fransen
um, die hauptsächlich nach hinten und an
der Seite liegen; vornherunter glatte Bahn.
Das Uebermass der Weite schwindet, und
der Rock kehrt zu Dimensionen zurück,
die zierlich und bequem zugleich sind.
Radiguet (Paris).
Auch der Ballon des Aermels schrumpft
zusammen. Welches Glück für uns alle,
sofern die Natur uns nicht stiefmütterlich
bedacht hat. Der Aermel schliesst sich eng
bis oben an und verräth nicht nur, sondern
zeichnet treu den zarten Linienschwung des
Armes, den die Bauschfalten bisher schnöde
verbargen. Nur der Schulteransatz behält
noch einen Rest der bisherigen Formen,
einen Tambour oder „Jockey“ aus kunst-
voll chiffonnirter Seide mit Spitzen. Am
Handgelenk wird der Aermel garnirt Spitzen-
volant oder Zacken mit Spitzen, entsprech-
end denjenigen, die auch am Kragen ge-
tragen werden.
Aber bemerken wir wohl, dass wir da
ein bischen Zukunftsmusik hören. Noch
stecken wir tief in den Glockenröcken und
Ballonärmeln, die sich in Soiree und Be-
suchstoiletten sogar breiter als jemals ma-
chen. Auf dem Ball des Präsidenten der
Republik, am 26. Februar, herrschten sie
noch vor. Indess erschienen
schon hie und da Vorläufer- >
innen der kommenden Mode,
Vorkämpferinnender ersehnten
Rockreform. , CHS „
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