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Nr. 21

JUGEND

1896

Der Storch

Ihr Boudoir. Elegante Einrichtung. Die Lampe brennt. Das Ehepaar am Theetischchen.

ER. Aber liebes Kind, komm’ doch in Kunstfragen nicht immer
gleich mit „Moral“!

SIE (weiss, dass er ärgerlich ist, wenn er „liebes Kind“ sagt — also
nachgiebig.) Ich versteh’s vielleicht nicht besser. Viel-
leicht liegt das an der Erziehung. Wir Mädchen —

ER. Ihr Mädchen! Ihr Mädchen wisst ganz genau, dass der
Storch die kleinen Kinder nicht bringt.

SIE. So? Woher weisst Du, dass wir das wissen?

ER (gibt aus guten Gründen keine Antwort hierauf.) Moral! Ich
versichere Dir, dass das langweilig ist, jedes zweite Wort:
die Moral! Ich schmeichle mir, etwas von Kunst zu ver-
stehen; ich sage Dir, das Buch ist gut, ich erkläre Dir,
warum ich es gut finde, aus zehn, aus hundert Gründen.
Der Mann ist ein Dichter. Und was antwortest Du mir?

Aber die Moral!“ Das mit der Moral, das hast Du von
Deiner Mutter!

SIE. Hast Du gegen meine Mutter eine Einwendung zu machen?

ER (nimmt einen Schluck Thee — dann): Deine Mutter gehört
nicht zu den Frauen, gegen die man Einwendungen macht.

SIE. Gerade Du solltest ihr ewig dankbar sein, dass sie mir
die Grundsätze eingeprägt hat, die sich für eine anständige
Frau geziemen.

ER. Warum gerade ich?

SIE. Nach Deiner Vergangenheit... Deine Vergangenheit hat
Dich doch zur Ertheilung solcher Lehren ganz unge-
eignet gemacht.

ER. Ich habe gelebt wie alle jungen Männer. Nicht mehr
und nicht weniger.

SIE. Besonders nicht weniger.

ER (dem dieses Thema unbehaglich ist.) Wenn ein Kunstwerk
als Kunstwerk gut ist, so hat Eure Salonmoral weiter
nichts d’rein zu reden. Wenn ein Dichter die Welt schil-
dert, wie sie ist, so kann er freilich darin dem Storch
nicht die Rolle zutheilen, welche ihm in der Kinderstube
zugewiesen wird.

SIE. Du scheinst eine Vorliebe für dieses Bild mit dem Storch
zu haben.

ER. Weil es bezeichnend ist. Was Du verlangst, geht darauf
hinaus, dass einer den Glauben an den Storch nicht ver-
letzt —

SIE. Den Glauben an das Ideal!

ER. Was verstehst Du unter dem Ideal?

SIE. Die Tugend, die Anständigkeit, alles, was sich gehört.

ER. Dass man Fische nicht mit dem Messer isst, oder bei
einem Begräbniss einen Cylinder trägt?

SIE. Dein Spott rührt mich nicht. Das Ideal ist eben —

ER. Das Ideal.

SIE. Ja, das muss man fühlen. Ihr modernen Männer habt
eben das Gefühl dafür verloren. Wenn so ein Buch
einem jungen Mädchen in die Hand fällt!

ER. So versteht sie’s nicht, dann ist’s ihr chinesisch und
kann nicht schaden. Oder sie versteht’s, dann geht’s in
Einem hin. Uebrigens können sich die grossen Künstler
nicht nach den kleinen Mädchen richten. Und dem Reinen
ist Alles rein. (Er steht auf und bereitet sich \um Fortgehen.)

SIE. Die Polizei hat ganz Recht, wenn sie alles confiscirt, was
gegen — gegen —

ER. Gegen den Storch ist.

SIE. Und die Leute, die so etwas schreiben oder malen, ge-
hören in’s Gefängniss.

ER. Ja, aus der Welt machen wir eine Kinderstube und —
(Sieht auf die Uhr.) Ah, ich muss eilen, sonst komm’ ich
zu spät zur Sitzung. (Küsst sie auf die Stirne.) Adieu, mon
enfant, du storchgläubiges.

SIE. (Kokett.) Bist Du mir böse desshalb?

ER. Aber im Gegentheil! (Er gehl ab.)

SIE (bleibt eine IVeile hinausblickend am Fenster stehen, bis sie sich
überzeugt hat, dass er in die Droschke gestiegen und weggefahren
ist. Dann tippt sie auf die Tischglocke und sagt iu der aus einem
Nebenzimmer erscheinenden Zofe): Lassen Sie ihn eintreten.

MAX BERNSTEIN.
Register
Max Bernstein: Der Storch
Otto Eckmann: Der Zopf und die Jugend
 
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