1896
JUGEND
Nr. 22
2. In Deutschland ist man aber der Ansicht, dass, wie die Sachen liegen, eine Landung in England unmöglich ist.
Gerolstein, am n. Mai.
Gestern feierten wir hier unter rauschenden, glänzenden
Festlichkeiten die fünfundzwanzigjährige Wiederkehr des
Tages, an dem 1871 zu Frankfurt a. M. der Friede geschlossen
wurde. Eine ganze Reihe höchst origineller Veranstaltungen
wurde der Bedeutung des Tages gerecht.
Morgens um sieben Uhr verkündete Glockengelaute von
allen Thürmen der Residenzstadt den Anbruch der Feier.
Hundert in die Gerolstein’schen Nationalfarben, blau und
grün, gekleidete Waisenkinder erhielten unentgeltlich >e eine
halbe Flasche Gerolsteiner Sprudel zum Frühstück. Es war
ein erhebender Moment, kein Auge blieb trocken. Von allen
Dächern wehten blaugrüne Wimpel. Porträts der Gross
herzogin und Tafeln mit passenden Inschriften: wie „UeD
immer Treu’ und Redlichkeit!“ oder „Lang lebe die Gross-
herzogin!“ oder „Gott schütze die Landwirtschaft und die
Gewerbe in Gerolstein!“ oder „Freut Euch des Lebens, weil
noch das Lämpchen glüht!“ — zierten die Häuser. Berittene
Gensdarmen sprengten durch die Strassen und überritten
zwei kleine Kinder und einen pensionirten Kanzleirath. Die
ältesten Leute konnten sich an einen so schönen Tag nicht
erinnern.
Vormittags neun Uhr wurde auf dem Marktplatz ein Denk-
mal für Jacques Offenbach in Gegenwart der Grossherzogin
enthüllt. Dieser Theil der Feier war besonders sinnig ange-
ordnet. Die Mitglieder des Vereins zur Hebung der künst-
lichen Fischzucht bildeten Spalier. Dann ergriff Bürgermeister
Müller das Wort, gedachte in längerer, patriotisch begeisterter
Rede der Verdienste seiner Amtsvorgänger, ging dann in ge-
schickter Weise zu den Thaten eines im dreißigjährigen Kriege
verdienten Grossherzogs von Gerolstein über und schloss mit
einem Hoch auf die Landesmutter. Hierauf trat Frln. Rosa
Mollig von der grossherzoglichen Hofbühne vor und dekla-
mirte mit wahrhaft herzergreifendem Ausdruck „des Sängers
Fluch“ und als Zugabe „Johann, der muntere Seifensieder“.
Als sie geendet hatte, intonirte der „Männergesangverein
Gerolstein“ das schöne, immer wieder auf’s Neue so sehr
zum Herzen sprechende Lied: „Wer hat Dich, Du schöner
Wald“ und dann fiel unter den Klängen des Fatinitza-Marsches
die Hülle des Denkmals. Ihre Hoheit die Frau Grossherzogin
geruhten hierauf das Denkmal für enthüllt zu erklären und
forderten Höchst Ihr geliebt; i Volk auf, in dieser Weise auf
dem Pfade aufopfernder Vaterländchensliebe fortzuschreiten.
Dann folgte Rückfahrt durch die festlich geschmückten Stras-
sen der Stadt, wobei es leider zu einigen Verhaftungen wegen
unterlassener Hochrufe kam. Das französische Menu der nun
folgenden Galatafel im N. Schloss war, stilistisch wie culi-
narisch betrachtet, ein Meisterstück.
Abends fand Festvorstellung im grossherzoglichen Hof-
theater statt — einfach grossartig! Ein vaterländischer Dichter
hatte einen Prolog zum Preise des grossen Römers Mucius
Scaevola gedichtet, dann spielte das Hoforchester die Fest-
hymne: „Voici le sabre de mon pere“ und dann begann das
Festspiel — eine glänzende Vorstellung von „Madame sans
Gene“. Zum Schlüsse stieg der Darsteller des Napoleon auf
den Souffleurkasten und brachte ein Hoch auf Ihre Hoheit die
Frau Grossherzogin aus. Diese überraschende und so über-
aus sinnige Wendung fand allgemeinen Beifall.
Neben Ihrem Berichterstatter sass in der Loge ein höherer
Staatsbeamter, den ich über die Bedeutung des Festes als ge-
wissenhafter Referent sofort interviewte. Er sagte:
„Ja, jetzt sind es fünfundzwanzig Jahre her, dass der
blutige gerolsteinisch- französische Krieg beendet würbe
ein grosser Moment!“ Er hüstelte fein — diplomatisch.
Ich sagte: „Meiner bescheidenen Ansicht nach hat doch
aber eigentlich nicht Gerolstein den Krieg mit Frankreich ge-
führt, sondern Deutschland.“
Mein Nachbar wurde todtenblass, schaute sich verlegen
um und gerieth in’s Wanken. Ich fragte, was ihm fehle:
„Junger Mann“ gab er zur Antwort, „Sie hätten sich
aber auch etwas vorsichtiger ausdrücken können, so was sagt
man doch nicht laut!“ Sprach’s und verliess, immer noch un-
sicheren Schrittes, die Loge.
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2. In Deutschland ist man aber der Ansicht, dass, wie die Sachen liegen, eine Landung in England unmöglich ist.
Gerolstein, am n. Mai.
Gestern feierten wir hier unter rauschenden, glänzenden
Festlichkeiten die fünfundzwanzigjährige Wiederkehr des
Tages, an dem 1871 zu Frankfurt a. M. der Friede geschlossen
wurde. Eine ganze Reihe höchst origineller Veranstaltungen
wurde der Bedeutung des Tages gerecht.
Morgens um sieben Uhr verkündete Glockengelaute von
allen Thürmen der Residenzstadt den Anbruch der Feier.
Hundert in die Gerolstein’schen Nationalfarben, blau und
grün, gekleidete Waisenkinder erhielten unentgeltlich >e eine
halbe Flasche Gerolsteiner Sprudel zum Frühstück. Es war
ein erhebender Moment, kein Auge blieb trocken. Von allen
Dächern wehten blaugrüne Wimpel. Porträts der Gross
herzogin und Tafeln mit passenden Inschriften: wie „UeD
immer Treu’ und Redlichkeit!“ oder „Lang lebe die Gross-
herzogin!“ oder „Gott schütze die Landwirtschaft und die
Gewerbe in Gerolstein!“ oder „Freut Euch des Lebens, weil
noch das Lämpchen glüht!“ — zierten die Häuser. Berittene
Gensdarmen sprengten durch die Strassen und überritten
zwei kleine Kinder und einen pensionirten Kanzleirath. Die
ältesten Leute konnten sich an einen so schönen Tag nicht
erinnern.
Vormittags neun Uhr wurde auf dem Marktplatz ein Denk-
mal für Jacques Offenbach in Gegenwart der Grossherzogin
enthüllt. Dieser Theil der Feier war besonders sinnig ange-
ordnet. Die Mitglieder des Vereins zur Hebung der künst-
lichen Fischzucht bildeten Spalier. Dann ergriff Bürgermeister
Müller das Wort, gedachte in längerer, patriotisch begeisterter
Rede der Verdienste seiner Amtsvorgänger, ging dann in ge-
schickter Weise zu den Thaten eines im dreißigjährigen Kriege
verdienten Grossherzogs von Gerolstein über und schloss mit
einem Hoch auf die Landesmutter. Hierauf trat Frln. Rosa
Mollig von der grossherzoglichen Hofbühne vor und dekla-
mirte mit wahrhaft herzergreifendem Ausdruck „des Sängers
Fluch“ und als Zugabe „Johann, der muntere Seifensieder“.
Als sie geendet hatte, intonirte der „Männergesangverein
Gerolstein“ das schöne, immer wieder auf’s Neue so sehr
zum Herzen sprechende Lied: „Wer hat Dich, Du schöner
Wald“ und dann fiel unter den Klängen des Fatinitza-Marsches
die Hülle des Denkmals. Ihre Hoheit die Frau Grossherzogin
geruhten hierauf das Denkmal für enthüllt zu erklären und
forderten Höchst Ihr geliebt; i Volk auf, in dieser Weise auf
dem Pfade aufopfernder Vaterländchensliebe fortzuschreiten.
Dann folgte Rückfahrt durch die festlich geschmückten Stras-
sen der Stadt, wobei es leider zu einigen Verhaftungen wegen
unterlassener Hochrufe kam. Das französische Menu der nun
folgenden Galatafel im N. Schloss war, stilistisch wie culi-
narisch betrachtet, ein Meisterstück.
Abends fand Festvorstellung im grossherzoglichen Hof-
theater statt — einfach grossartig! Ein vaterländischer Dichter
hatte einen Prolog zum Preise des grossen Römers Mucius
Scaevola gedichtet, dann spielte das Hoforchester die Fest-
hymne: „Voici le sabre de mon pere“ und dann begann das
Festspiel — eine glänzende Vorstellung von „Madame sans
Gene“. Zum Schlüsse stieg der Darsteller des Napoleon auf
den Souffleurkasten und brachte ein Hoch auf Ihre Hoheit die
Frau Grossherzogin aus. Diese überraschende und so über-
aus sinnige Wendung fand allgemeinen Beifall.
Neben Ihrem Berichterstatter sass in der Loge ein höherer
Staatsbeamter, den ich über die Bedeutung des Festes als ge-
wissenhafter Referent sofort interviewte. Er sagte:
„Ja, jetzt sind es fünfundzwanzig Jahre her, dass der
blutige gerolsteinisch- französische Krieg beendet würbe
ein grosser Moment!“ Er hüstelte fein — diplomatisch.
Ich sagte: „Meiner bescheidenen Ansicht nach hat doch
aber eigentlich nicht Gerolstein den Krieg mit Frankreich ge-
führt, sondern Deutschland.“
Mein Nachbar wurde todtenblass, schaute sich verlegen
um und gerieth in’s Wanken. Ich fragte, was ihm fehle:
„Junger Mann“ gab er zur Antwort, „Sie hätten sich
aber auch etwas vorsichtiger ausdrücken können, so was sagt
man doch nicht laut!“ Sprach’s und verliess, immer noch un-
sicheren Schrittes, die Loge.
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