1896
JUGEND
Nr. 23
Röntgen-Blicke
In der bayerischen Abgeordnetenkammer, in
der verschiedene Perlen des Centrumsthurms über
Kunst und Theater, Moral und Leben, Religiosität,
Landwirtschaft und Viehzucht so wundervolle Be-
hauptungen aufzustellen lieben, hat neulich einmal
einer von diesen Herren erklärt:
„In München braucht man Nuditäten nicht
zu suchen, sondern man findet sie überall. Man
braucht nicht einmal eigens hinzuschauen, sie be-
gegnen einem überall, manchmal in sehr skandalöser
Weise.“
Darob war zunächst allgemeines Schütteln des
Kopfes, denn was der Herr Abgeordnete da be-
hauptet hatte, war selbst den übrigen gewiegten
und vereidigten Nuditätenkennern des Hauses bis
dato noch nicht aufgefallen gewesen. Entweder
hatte der Herr geflunkert, oder den puren Blöd-
sinn geredet — und das war doch von einem
Mann aus der Partei für Gottesfurcht und Sitte
nicht vorauszusehen — oder aber: er hatte etwas
vor seinen Collegen voraus, um dessen Allein-
besitz ihm diese ein wenig neidig sein mochten.
Aber was?
Es gibt nur eine Erklärung: der betreffende
Abgeordnete ist ein medizinisch-physiologisch-
optisch-chemisch-elektrisches Phänomen. Er leidet
an X-Blicken, die wir analog den Röntgenstrahlen
dem wackeren deutschen Gelehrten zu Ehren
,,R öntgen-Blicke" nennen wollen. Er sieht
durch Rock und Hosen, Taille, Mieder und Strumpf-
bänder durch bis auf die Haut — nicht bis auf
die Knochen. Aber diese interessiren ihn auch
weniger. Ein Physiologe, den wir um die Ursache
dieser Erscheinung fragten, sagte, die Sache sei
sehr einfach und erkläre sich durch ausserordent-
liche — Hebung und hochgespannte Intensität
des Willens. Unser Zeichner hat die Szene dar-
gestellt, wie der biedere Landesbote durch die
Strassen des neuen Sodom wandelt und ,,ohne
eigens hinzuschauen, in skandalöser Weise den
Nuditäten begegnet“.
Im unteren Bildlein ist dargestellt, wie der oben
bezeichnet^ Herr an der Spitze einer Schaar männ-
licher und weiblicher Mitglieder der von ihm eigens
zu diesem Zwecke gegründeten „Vereinigung
christlich gesinnter Nuditätenforscher“ ausrückt,
um alle vorhandenen Obszönitäten aufzufinden, zu Protokoll zu^nehmen
und mit Pinsel und Tünche, Hammer, Meisel und Sägen, Badehosen
und Feigenblättern aus der Welt zu schaffen. Die Gesellschaft
hat sich sehr ausgedehnte Aufgaben gesetzt, die demnächst in einem
besonderen Gongress erörtert werden sollen. Unter Anderem be-
absichtigt sie die Ausfüllung der Meer-Busen.
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Nr. 23
Röntgen-Blicke
In der bayerischen Abgeordnetenkammer, in
der verschiedene Perlen des Centrumsthurms über
Kunst und Theater, Moral und Leben, Religiosität,
Landwirtschaft und Viehzucht so wundervolle Be-
hauptungen aufzustellen lieben, hat neulich einmal
einer von diesen Herren erklärt:
„In München braucht man Nuditäten nicht
zu suchen, sondern man findet sie überall. Man
braucht nicht einmal eigens hinzuschauen, sie be-
gegnen einem überall, manchmal in sehr skandalöser
Weise.“
Darob war zunächst allgemeines Schütteln des
Kopfes, denn was der Herr Abgeordnete da be-
hauptet hatte, war selbst den übrigen gewiegten
und vereidigten Nuditätenkennern des Hauses bis
dato noch nicht aufgefallen gewesen. Entweder
hatte der Herr geflunkert, oder den puren Blöd-
sinn geredet — und das war doch von einem
Mann aus der Partei für Gottesfurcht und Sitte
nicht vorauszusehen — oder aber: er hatte etwas
vor seinen Collegen voraus, um dessen Allein-
besitz ihm diese ein wenig neidig sein mochten.
Aber was?
Es gibt nur eine Erklärung: der betreffende
Abgeordnete ist ein medizinisch-physiologisch-
optisch-chemisch-elektrisches Phänomen. Er leidet
an X-Blicken, die wir analog den Röntgenstrahlen
dem wackeren deutschen Gelehrten zu Ehren
,,R öntgen-Blicke" nennen wollen. Er sieht
durch Rock und Hosen, Taille, Mieder und Strumpf-
bänder durch bis auf die Haut — nicht bis auf
die Knochen. Aber diese interessiren ihn auch
weniger. Ein Physiologe, den wir um die Ursache
dieser Erscheinung fragten, sagte, die Sache sei
sehr einfach und erkläre sich durch ausserordent-
liche — Hebung und hochgespannte Intensität
des Willens. Unser Zeichner hat die Szene dar-
gestellt, wie der biedere Landesbote durch die
Strassen des neuen Sodom wandelt und ,,ohne
eigens hinzuschauen, in skandalöser Weise den
Nuditäten begegnet“.
Im unteren Bildlein ist dargestellt, wie der oben
bezeichnet^ Herr an der Spitze einer Schaar männ-
licher und weiblicher Mitglieder der von ihm eigens
zu diesem Zwecke gegründeten „Vereinigung
christlich gesinnter Nuditätenforscher“ ausrückt,
um alle vorhandenen Obszönitäten aufzufinden, zu Protokoll zu^nehmen
und mit Pinsel und Tünche, Hammer, Meisel und Sägen, Badehosen
und Feigenblättern aus der Welt zu schaffen. Die Gesellschaft
hat sich sehr ausgedehnte Aufgaben gesetzt, die demnächst in einem
besonderen Gongress erörtert werden sollen. Unter Anderem be-
absichtigt sie die Ausfüllung der Meer-Busen.
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