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Nr. 24

JUGEND

1896

Gezeichnet von J. Garden.

Das alte Haus am Wall

Von Nell

Es war um das Jahr 1878.

Ich ging, damals noch ein kleines
Mädchen, in die Töchterschule, die in H.
am Walle steht. Einige mächtige, alte Linden
ragten auf dem breiten Wege, der sich in
der Mitte der Strasse entlang zog, hoch in
die Luft hinein und warfen grosse Schatten
auf die drei altmodischen Häuser, die das
Gegenüber unserer Schule bildeten, und
die, trotz ihrer drei Stockwerke, so niedrig
waren, dass wir in der zweiten Etage gut in
jene Stuben hätten hinein schauen können,
wenn die Entfernung es nicht verhindert
hätte.

Sie mochten wohl zu Anfang des Jahr-
hunderts nicht den einfachen Eindruck ge-
macht haben, den sie damals wachriefen;
— aber gerade diese Einfachheit gab ihnen
etwas Ehrbares, und oft schweiften meine
Blicke und meine Gedanken drüben nach
den eng aneinander stehenden Fenstern,
denen jetzt noch steif geplättete Gardinen
ein Air von Correctheit verliehen.

Diese drei Häuser hatten aber noch
aus einem anderen Grund mein Interesse
erweckt, — und dieser wird auch wohl
zuerst die Veranlassung gewesen sein, dass
sich überhaupt meine kindlichen Gedanken
mit ihnen befassten, — von meiner Mutter
wusste ich, dass ich in einem derselben
das Licht der Welt erblickt hatte.

Damals schon schien es mir, als müsse
das sehr lange her sein — denn weite

Reisen in fremde Länder und unter andere
Völker hatten mir die Kinderjahre sehr
lang erscheinen lassen und mein junges
Gemüth für alle Eindrücke sehr empfind-
sam gemacht.

Auch an jenem warmen, dunstigen
Frühlingsnachmittage schweifte mein Blick
öfters nach drüben, als unten auf der Strasse
etwas meine Aufmerksamkeit erregte:

Offiziere in voller Gala — Generäle
mit Federbusch und blitzenden Orden,
Herren im Frack und Cylinder kamen und
verschwanden nacheinander in dem Hause
vis-ä-vis.

In dem ersten Stock waren die Rouleaux
heruntergezogen, — aber als Kind com-
biniert man nicht so schnell...

Da — um die Ecke kommt ein Trauer-
wagen mit vier Pferden bespannt, welche
hohe, schwarze Federn auf dem Kopfe
haben. —

Dann rücken Soldaten heran. Laute
Commandos ertönen, Gewehrkolben stos-
sen prasselnd auf das Steinpflaster — da-
zwischen Pferdegetrappel und neue Com-
mandorufe; — eine Schwadron Ulanen
ist herangerückt und hat Aufstellung ge-
nommen. —

Inzwischen war unsere ganze Klasse
in Aufregung gerathen — in Anbetracht
dessen der Lehrer es vorzog, den Unter-
richt zu unterbrechen und uns zu erlauben,
von den drei Klassenfenstern „das Be-
gräbniss“ mit anzusehen.

„Das muss irgend ein hoher Offizier
sein“, meinte unser Lehrer.

Aus der Thür treten jetzt Alle, welche
vorhin hineingegangen sind. Mit besorgter,
theilnehmender Miene stehen sie umher.
Ein hoher, weisshaariger General, der dem
alten Kaiser Wilhelm sehr ähnlich sieht,
fährt sich oft mit dem Taschentuch über
die Augen und über den Bart, auf den
die Thränen hinabperlen. Viele stehen
in Gruppen und flüstern und blicken hin-
auf, und flüstern-

Plötzlich wird oben mit raschen Händen
ein Rouleau in die Höhe gezogen. Hastig
schieben sie die weissen Gardinen zur
Seite, und eine in tiefe Trauer gekleidete
Gestalt erscheint am Fenster; sie hat den
langen Florschleier zurückgeschlagen und
ihre thränenströmenden Augen unten auf
die Strasse gerichtet.

Nie werde ich dieses Bild des Jammers
vergessen.

Sie schien der Verzweiflung nahe, und
ihr Körper bebte in wildem, aufgelöstem
Schluchzen . . .

Fest an das Fensterkreuz geklammert,
nickte sie hinunter auf das, was jetzt
langsam aus der Thür getragen wurde . .
um dann, mit einem Aufschrei, rücklings
in die Arme einer Dame zu fallen, welche
die Aermste liebevoll umfing.

Jetzt wusste ich auch, wer der Ver-
storbene war. — In der Dame hatte ich
Fräulein von D., die Hofdame der Fürstin
erkannt, und er, den man jetzt dorthin
trug, war ihr Verlobter.

Zwei Tage zuvor schon hatte man in
allen Zeitungen von der tragischen Be-

3/8

Gezeichnet von Schmidt-Helmbrechts.
Register
Julius Carben: Zierleiste
Nell: Das alte Haus am Wall
Carl Schmid-Helmbrecht: Zierleiste
 
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