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1896

JUGEND

Nr. 26

Radeln schon darum warm empfohlen,
weil es dem schönen Geschlechte in die
Hosen und damit der ganzen Bewegung
auf die Strümpfe helfe. Auch für den Mann
ist die Hosenfrage beim Radfahren wohl
nicht ganz nebensächlich. Er kann die Kraft
und Geschmeidigkeit seiner Glieder im
schönsten Lichte zeigen, wenn er auf dem
Rad sitzt, und die dürftigsten Waden be-
kommen in dicken englischen Strümpfen,
die oben umgeschlagen sind und „doppelt
wirken“, ein ganz respektables Ansehen.
Käme das Männergeschlecht durch den
Radfahrsport am Ende gar wieder dazu,
seine Beine in die praktisch und ästhetisch
so empfehlenswerthen Pumphosen statt in
die üblichen infamen, schlauchförmigen
Hülsen zu stecken, so hätte der Erfinder
des Zweirads damit allein schon eine Cultur-
mission erfüllt, die ihn würdig an die Seite
von Johannes Gutenberg und Berthold
Schwarz stellte. Das Radeln leiht übrigens
auch älteren Herren, wenn sie nicht allzu
ängstlich und verzweifelt an die Lenkstange
geklammert im Sattel sitzen, einen ge-
wissen Schein von Jugendlichkeit.

Dann kommen die vielen praktischen
Gründe, die für das Radfahren sprechen:
man kann, da heute ja auch die Eisen-
bahnen für den Transport von Rädern
schon gut eingerichtet sind, wenn das
Wetter nicht zu heiss ist, nicht zu windig,
nicht zu schwül und nicht regnerisch, der
Pneumatik die Luft hält und auch sonst
das Rad wie der Fahrer in Ordnung ist,
wenn man nicht das Malheur hat in einen,
von dem dazu gehörigen Bauern getrennten
Schuhnagel zu fahren, wenn das Terrain
nicht durch Steigungen, Polizeiverbote,
Hunde, Kinder, Bierwagen und Sonntags-
reiter beinträchtigt, die Strasse nicht frisch
beschottert, nicht durchweicht, nicht von
tiefen Geleisen durchzogen, nicht aus an-
deren Gründen schlecht oder gar nicht
fahrbar ist, wenn man die richtige Gesell-
schaft hat, keinen Wadenkrampf bekommt,
nicht auf falschen Weg geräth und auch
im klebrigen von vorhersehbaren und un-
vorhersehbaren Hindernissen nicht auf-
gehalten wird — unglaubliche Strecken in
fabelhaft kurzer Zeit zurücklegen. Heut-
zutage ist Zeit mehr Geld wie je. Wie
lange brauchte man früher, um in der Stadt
einen Weg von drei Kilometern hinter sich
zu bekommen? Volle fünfundzwanzig Mi-
nuten. Und jetzt: man vertauscht einfach
seine bürgerliche Kleidung mit dem Rad-
fahreranzug, putzt und ölt seine Maschine,
pumpt die Luftschläuche auf, füllt vorsichts-
halber die Laterne frisch ein, schiebt das
Rad behutsam durch die dem Radlerverkehr
noch nicht geöffneten Stadttheile, steigtauf
und strampelt dann gemüthlich mit kleinen,
durch die Qualität der Strassen bestimmten
Umwegen, seinem Ziel entgegen. In einer
knappen Stunde ist man dort.

Für alle, die zu einer über das Maass
wohlthuender Molligkeit hinausgehenden
Rundung neigen, ist das Radfahren freilich
der helle Segen — schade nur, dass es
auch im entsprechenden Grade wieder
Durst und Appetit fördert. Und auch sonst

Gezeichnet von E. Kneiss.

ist die flotte,' freie Bewegung in frischer
Luft für unsere Gesellschaft von Stuben-
hockern und Bureaumenschen im höchsten
Grade zuträglich. Ein einigermassen nor-
maler Beinbruch heilt, dank unserer fort-
geschrittenen medizinischen Wissenschaft
schon in wenigen Wochen, eingeschlagene
Zähne bekommt man schnell und billig
durch neue und viel weissere ersetzt, Riss-,
Schnitt- und Quetschwunden schliessen
sich in unserem Jahrhundert der Carbol-
säure und desjodoforms im Handumdrehen
ohne Schmerzen undWundfieber. DieAerzte
sind sehr für das Radfahren. Und dann
höre man nur die maassgebenden Stimmen
von Bicycle-Fabrikanten, Tricotagewaaren-
händlern, Sportschneidern, Witzblatt-Re-
dakteuren — sie Alle treten aufs Wärmste
für unseren Sport ein!

Kein Wunder also, dass dieser jede
Alters- und Gesellschaftsklasse für sich
eingenommen hat. Im Boudoir und am
Biertisch, im Bureau und beim Mahle
spricht man von nichts Anderem als vom
Fahrrad. Früher schwatzte man vom Wetter,
vom Theater, von Toiletten, von gesell-
schaftlichen Scandalen — heute spricht
man von Rekords und Straßenzuständen,
von Touren, Rennen, Stürzen, man lästert
über die Waden der Andern, man erörtert
die Vorzüge der verschiedenen Fabrikate
und dabei stellt es sich dann heraus, dass
Jeder eine Maschine des allerbesten Sy-
stems fährt. In Dingsda duellirten sich
neulich der Besitzer einer Swift-Maschine
und der eines Ichneumon-Fahrrades auf
10 Schritte Barriere wegen einer derart-
igen Meinungsverschiedenheit. Ein Schuss,
den der Letztere in den Schenkel bekam,
erwies den Vorzug des ersteren Fabrikates
zur Evidenz.

Tief, tief schneidet heute der Radfahr-
sport auch in den behaglichen Gang des
Familienlebens ein. Eine Familie, die,Fährt1,
verträgt sich mit einer radlosen Familie
nur schlecht; Todfeindschaften entstehen
um einen Strassenrekord oder um Meinungs-
verschiedenheiten über eine neupatentirte
Kettenölungsvorrichtung oder die Frage,
ob Handgriffe aus Holz, Horn, Kork,Gummi,
Metall, Celluloid, Granit oder Papiermache
vorzuziehen seien. Eine Mutter, die in
weiten Röcken fährt, widersetzt sich gewiss
wüthend der Verbindung ihres Sohnes mit
einer hosentragenden Bicyclistin. Aber
auch vereinigt werden Herzen durch das
Rad, nicht nur entzweit. Es bandelt sich
so hübsch an bei einer Fahrt ums Morgen-
roth in schattigen Hainen, man hilft der
Angebeteten auf die, und von der Maschine,
man hebt sie zärtlich und behutsam auf,
wenn sie auf den Kopf gefallen ist, man
schiebt ihr Rad die Berge hinan, pumpt
ihm Luft ein und stillt seinen Durst nach
Oel, wenn es quietscht — es gibt tausend
Gelegenheiten, sich da nützlich und lieb
zu machen. Ferner ist das „Tandem“ der
herrlichste Apparat zum Durchgehen, den
es gibt; im Uebrigen aber kann das doppel-
sitzige Rad nur für voreheliche Liebe em-
pfohlen werden. Unter Gatten führt es
weit eher zu Unfrieden — er tritt, sie

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Emil Kneiss (Kneisz, Kneiß): Zierleiste
 
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