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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (18. Juli 1896)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3224#0043
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Nr. 29

JUGEND

1896

Da kommt er die Wiese quer herüber
und fragt nach dem Weg. Sie gibt Bescheid
und treibt ihr Spiel von Neuem. Belustigt
blickt der Bursche auf das Mädchen.
„Was treibst da?“ — „Grillen fangen.“
„Hast Du welche?“ — „Und ob!“

Er kniet sich zu ihr. Sie nimmt ein
Paar in die hohle Hand und hält sie an
sein Ohr. Er hört das leise Gezirpe und
will nun selbst welche fangen. So treiben
sie’s eine ganze Weile. Heisser brennt die
Sonne auf die Beiden. Er springt auf. Lang-
sam überzählt er seine Baarschaft.

„Ist’s weit bis zum Wirthshaus?“
„Hast Du Durst?“ „Das will ich meinen!“
Die Trudel kriecht das Hügelchen hin-
auf und kniet vor ihrer kleinen Vorraths-
kammer. Er ist ihr gefolgt und blickt nun auf
sie hinab und auf das gelockerte Halstuch.

Wie sie ihm die Flasche reicht, thut er
einen langen Zug. Dann holt sie Käse und
Brot und er nimmt aus seinem Ranzel
Wurst und Kornbranntwein.

Lachend versucht sie ein Bischen und
kreischt auf, wie sie die feurigen Tropfen
im Halse brennen. So essen und trinken
sie einträchtig. Dann wollen sie schlafen.

Sie legen sich auf den Boden, aber der
Bursche dreht sich auf die Seite und schielt
nach dem Mädel, das ihn unter den ge-
schlossenen Liedern hervor anblinzelt.

Er nimmt einen der langen, dürren
Halme und fährt ihr damit in’s Gesicht,
sie wirft ihn mit Fichtenzapfen, er wirft
wieder zurück, sie wehrt sich, da packt
er sie fest beim Arm.

Aus dem kindischen Scherzen wird ein
Ringen. Des Mädchens Wangen glühen
und ihre Augen funkeln, nicht mehr wie
Kinderaugen. Der Bursche sieht immer
besser, wie schön das Mädel ist.

Zeichnung von Fritz Wolff.

Sie springt hastig auf und blickt späh-
end umher. Keine Menschenseele!

Die Gänse, alle um die schlechte Hü-
terin versammelt, verlangen schnatternd
nach dem Stalle.

DieTrudel packt eilig zusammen, nimmt
die Haselgerte und treibt heimwärts.

Ihr Haar ist zerzaust und der rothe
Rock hat einen Riss.

Wie sie auf den Pfarrhof zukommt,
wirft sie einen scheuen Blick darauf und
biegt plötzlich in einen kleinen Feldweg
ein, der hinter dem Hause vorüberführt.

Ein Bettelmönch, der im Pfarrhof Al-
mosen erhalten hatte, holt sie ein.

„Gelobt sei Jesus Christus!“

„In Ewigkeit, Amen!“ Dann schenkt er
ihr ein kleines, farbiges Bild: Die Jungfrau
Maria, in einem Kranze von Lilien!

Da beugt er sich plötzlich über das
Mädel und küsst es auf den Mund. Die
Trudel liegt regungslos und hat die Augen
geschlossen.

Glühend brütet’s über den Wiesen; alles
Leben scheint ringsum erstorben. Kein
Vogel singt; sogar das Grillengezirpe ist
verstummt. Weiter draussen leuchtet die
Haide roth im Sonnenglast, hunderte von
Bienen und Hummeln summen darüberhin.

Wie die Sonne schon nahe am Sinken
ist, erwacht das Mädchen. Verstört blickt
es um sich und streicht die Haare aus
der feuchten Stirn.

Der Platz neben ihr ist leer, das Gras,
wo der Wanderbursch [gelegen, zerwühlt.

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Fritz Wolff: Zeichnung zum Text "Tandaradei"
 
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