Nr. 29
JUGEND
1896
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den ganzen Tag über durch einen himmelhohen Lattenzaun
getrennt sind! Nur abends, vor dem Sanatorium sieht man
sich, aber auch dann heisst es, sich an so manches erst
gewöhnen, z. B. daran, dass die Herren stets die längsten
und bequemsten Stühle occupiren, in denen sie in ihrer ganzen
Länge ausgestreckt liegen, selbstverständlich ohne Schuhe
und Strümpfe, und dabei zwischen die Zehen runde Holz-
pflöcke klammern, damit die Luft richtig cirkuliren kann.
Hübsch, nicht wahr? Gegen die Kostüme, Lämmchen’sche
Baumwoll-Reform, grau mit rosenrothen Troddelchen, habe
ich nichts einzuwenden, dagegen kann ich die Netzfilet-
hemden, bei denen man dem Träger bis auf den Magen
sieht, nicht billigen. Noch eins. Gestern als ich mit der
Fürstin Borispoluschka in das Sanatorium eintrat, sah ich
wie bei unserm Anblick zwei Touristen eine bezeichnende
Geste mit dem Zeigefinger gegen die Stirne machten, und
vernahm die geflüsterten Worte: „Die Verrückten aus dem
Sanatorium und der Schliggermilchkaserne!“ Wie mich das
freute, meine theure Melanie! Denn bekanntlich spricht
nichts so sehr für die Bedeutung einer neuen Lehre, als
wenn sie von den Gegnern in den Koth gezerrt wird. So
froh wie gestern bin ich selten gewesen. Henny.
XL
Meine Theure.
Zeichnung von Otto Herschei.
2. Juli.
So tief hatte ich mich in das pflanzenhafte Dasein ein-
gesponnen, dass ich ganz vergessen hatte, meine Reisekasse
nachzuzählen und mich plötzlich vis-ä-vis de rien sah. Das
war unangenehm! Ein Vermögen, von dem ein preussischer
Gerichtsrath nebst Familie ein ganzes Jahr leben würde, in
elf Wochen verbraucht — es ist wirklich erstaunlich, welche
Summen man mit Nährschmalz und Sauermilch hinunter-
essen kann! Und dieser Ruin gerade jetzt, als die Kur an-
fing, so vorzüglich zu wirken! Ein einziges Moment gab es,
das mich über den Abschied tröstete: meine Nächte im Sana-
torium waren mit Eintritt der warmen Witterung nicht mehr
ungestört gewesen. Melanie! Du glaubst es nicht, welche
Grösse der Auffassung, welches Auffinden immer neuer Ge-
sichtspunkte diesem Manne*) eigen ist. Als ich mich von
ihm verabschiedete, als ich die nöthigen Verhaltungsmass-
regeln empfangen, als ich von ihm gehört hatte, dass mein
Zustand befriedigend, dass alles sehr gut sei (ich muss noch
eine zweite Postkarte daran wenden, es hilft nichts),
Liebste Melanie.
X.
ä propos, ich meine damit nicht meinen Arthur, sondern Dr. Lämmchen.
20. Juni 96.
Solchen Freitag Vormittag, an dem Dr. Lämmchen seine
weiblichen Patienten empfängt, müsstest Du einmal mit-
machen. Welche erstaunliche Arbeitskraft! Sieben und
achtzig Personen werden in anderthalb Stunden bewältigt.
Es ist wie eine Prozession. Zu der einen Thür kommt man
hinein, wird auf eine Stuhlwage gesetzt, und im Nu sind die
nothwendigsten Fragen gestellt und beantwortet. Der Dalai
Lama reicht einem die rechte Hand, deren Fingerkuppen
von den vielen Patientenhändediücken schon ganz abgenuzt
sind, genau wie der grosse Zeh des Sankt Petrus in Rom
von den Küssen der Gläubigen, und in der nächsten halben
Minute ist man wieder durch eine zweite Thür auf den
Corridor gelangt. Ich selbst fühle mich wenig gut, schätze
jedoch dieses Uebelbefinden als den Anfang vollständiger
Genesung. Meine an sich schon sylphenhafte Gestalt hat
sich zu prärafaelitischer Schlankheit verflüchtigt. Dr. Lämm-
chen und der famose kleine Dr. von Fahrenhold versichern,
dass dies genau das sei, was sie beabsichtigt hätten, und dass
sie sehr zufrieden mit mir seien. Ich huste beträchtlich viel
Blut aus, — wie Dr. von Fahrenhold sagt, das schlechte
Blut, — so dass für eine neue Blutmischung mit reichlich
Nährschmalz Platz gewonnen ist. Gott sei Dank, dass die
schlechten Stoffe endlich rauskommen! H.
XII.
wagte ich auch noch, ihm das soeben Angedeutete zu ge-
stehen. „Ich bin etwas nervös herunter!, meine letzten Nächte
waren zu grausam, es gibt bei mir — —" und zaghaft flüs-
terte ich das schreckliche Wort in seinen Eremitenbart. Ich
dachte, er würde einen Schrei des Entsetzens ausstossen,
dagegen erglühte sein Antlitz im Freudenschein und entzückt
rief er aus: „Aber gnädige Frau, das ist gut, das ist ja famos,
das ist gerade das, was ich wollte! Bedenken Sie doch, dass
diese angenehmen kleinen Thiere Ihnen das schlechte Blut
aussaugen, Sie von allen angesammelten Giftstoffen befreien!
Es ist genau wie eine künstliche Impfung, alles Ueble
schwärt heraus — ich überlege noch, ob ich diese kleinen,
wohlthätigen braunen Helfer nicht besonders züchten soll.“
— Sieh Melanie, der Eigenart und Grösse dieser Auffassung
musste ich mich beugen. Ich neigte mich über seinen ab-
genutzten Daumen und drückte einen heissen Dankeskuss
darauf. Was sind die — tausend Mark (ich mag die Summe
doch nicht nennen), die ich hier gelassen, da ich dafür diese
erhabene Philosophie eingetauscht habe, das Bewusstsein,
dass alles, was von ihm kommt, gut ist!
Henriette.
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den ganzen Tag über durch einen himmelhohen Lattenzaun
getrennt sind! Nur abends, vor dem Sanatorium sieht man
sich, aber auch dann heisst es, sich an so manches erst
gewöhnen, z. B. daran, dass die Herren stets die längsten
und bequemsten Stühle occupiren, in denen sie in ihrer ganzen
Länge ausgestreckt liegen, selbstverständlich ohne Schuhe
und Strümpfe, und dabei zwischen die Zehen runde Holz-
pflöcke klammern, damit die Luft richtig cirkuliren kann.
Hübsch, nicht wahr? Gegen die Kostüme, Lämmchen’sche
Baumwoll-Reform, grau mit rosenrothen Troddelchen, habe
ich nichts einzuwenden, dagegen kann ich die Netzfilet-
hemden, bei denen man dem Träger bis auf den Magen
sieht, nicht billigen. Noch eins. Gestern als ich mit der
Fürstin Borispoluschka in das Sanatorium eintrat, sah ich
wie bei unserm Anblick zwei Touristen eine bezeichnende
Geste mit dem Zeigefinger gegen die Stirne machten, und
vernahm die geflüsterten Worte: „Die Verrückten aus dem
Sanatorium und der Schliggermilchkaserne!“ Wie mich das
freute, meine theure Melanie! Denn bekanntlich spricht
nichts so sehr für die Bedeutung einer neuen Lehre, als
wenn sie von den Gegnern in den Koth gezerrt wird. So
froh wie gestern bin ich selten gewesen. Henny.
XL
Meine Theure.
Zeichnung von Otto Herschei.
2. Juli.
So tief hatte ich mich in das pflanzenhafte Dasein ein-
gesponnen, dass ich ganz vergessen hatte, meine Reisekasse
nachzuzählen und mich plötzlich vis-ä-vis de rien sah. Das
war unangenehm! Ein Vermögen, von dem ein preussischer
Gerichtsrath nebst Familie ein ganzes Jahr leben würde, in
elf Wochen verbraucht — es ist wirklich erstaunlich, welche
Summen man mit Nährschmalz und Sauermilch hinunter-
essen kann! Und dieser Ruin gerade jetzt, als die Kur an-
fing, so vorzüglich zu wirken! Ein einziges Moment gab es,
das mich über den Abschied tröstete: meine Nächte im Sana-
torium waren mit Eintritt der warmen Witterung nicht mehr
ungestört gewesen. Melanie! Du glaubst es nicht, welche
Grösse der Auffassung, welches Auffinden immer neuer Ge-
sichtspunkte diesem Manne*) eigen ist. Als ich mich von
ihm verabschiedete, als ich die nöthigen Verhaltungsmass-
regeln empfangen, als ich von ihm gehört hatte, dass mein
Zustand befriedigend, dass alles sehr gut sei (ich muss noch
eine zweite Postkarte daran wenden, es hilft nichts),
Liebste Melanie.
X.
ä propos, ich meine damit nicht meinen Arthur, sondern Dr. Lämmchen.
20. Juni 96.
Solchen Freitag Vormittag, an dem Dr. Lämmchen seine
weiblichen Patienten empfängt, müsstest Du einmal mit-
machen. Welche erstaunliche Arbeitskraft! Sieben und
achtzig Personen werden in anderthalb Stunden bewältigt.
Es ist wie eine Prozession. Zu der einen Thür kommt man
hinein, wird auf eine Stuhlwage gesetzt, und im Nu sind die
nothwendigsten Fragen gestellt und beantwortet. Der Dalai
Lama reicht einem die rechte Hand, deren Fingerkuppen
von den vielen Patientenhändediücken schon ganz abgenuzt
sind, genau wie der grosse Zeh des Sankt Petrus in Rom
von den Küssen der Gläubigen, und in der nächsten halben
Minute ist man wieder durch eine zweite Thür auf den
Corridor gelangt. Ich selbst fühle mich wenig gut, schätze
jedoch dieses Uebelbefinden als den Anfang vollständiger
Genesung. Meine an sich schon sylphenhafte Gestalt hat
sich zu prärafaelitischer Schlankheit verflüchtigt. Dr. Lämm-
chen und der famose kleine Dr. von Fahrenhold versichern,
dass dies genau das sei, was sie beabsichtigt hätten, und dass
sie sehr zufrieden mit mir seien. Ich huste beträchtlich viel
Blut aus, — wie Dr. von Fahrenhold sagt, das schlechte
Blut, — so dass für eine neue Blutmischung mit reichlich
Nährschmalz Platz gewonnen ist. Gott sei Dank, dass die
schlechten Stoffe endlich rauskommen! H.
XII.
wagte ich auch noch, ihm das soeben Angedeutete zu ge-
stehen. „Ich bin etwas nervös herunter!, meine letzten Nächte
waren zu grausam, es gibt bei mir — —" und zaghaft flüs-
terte ich das schreckliche Wort in seinen Eremitenbart. Ich
dachte, er würde einen Schrei des Entsetzens ausstossen,
dagegen erglühte sein Antlitz im Freudenschein und entzückt
rief er aus: „Aber gnädige Frau, das ist gut, das ist ja famos,
das ist gerade das, was ich wollte! Bedenken Sie doch, dass
diese angenehmen kleinen Thiere Ihnen das schlechte Blut
aussaugen, Sie von allen angesammelten Giftstoffen befreien!
Es ist genau wie eine künstliche Impfung, alles Ueble
schwärt heraus — ich überlege noch, ob ich diese kleinen,
wohlthätigen braunen Helfer nicht besonders züchten soll.“
— Sieh Melanie, der Eigenart und Grösse dieser Auffassung
musste ich mich beugen. Ich neigte mich über seinen ab-
genutzten Daumen und drückte einen heissen Dankeskuss
darauf. Was sind die — tausend Mark (ich mag die Summe
doch nicht nennen), die ich hier gelassen, da ich dafür diese
erhabene Philosophie eingetauscht habe, das Bewusstsein,
dass alles, was von ihm kommt, gut ist!
Henriette.
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