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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 30 (25. Juli 1896)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3224#0064
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Nr. 30

1896

* JUGEND .

Entwuri au einem, laudwirthschaftlichen Diplom,von A. Jank.

„Lucy, voyons! ich rufe nicht den Jungen, sondern Dich;
warum trotzest Du?"

Tiefes Schweigen. Mit einem schiefen Munde, wie die Leute,
welche auf einer Seite kauen, bat Poulou:

„Papa, erzähl' mir eine Geschichte!"

„Lucy, voyons! Nicht jetzt, Poulou, laß' mich in Frieden."

„Willst Du mir auch keinen Generalshut machen, der wie ein
Schiff auseinandergeht?" fragte das Kind.

„Nein, Poulou, nein, jetzt nicht."

„Du willst gar nicht mehr mit mir spielen, Papa", warf Poulou
vor. „Wann kaufst Du mir denn einen kleinen Bruder?"

„Ah! Das hängt nicht von mir allein ab. ... lheh! Lucy!
Hörst Du, was der Knirps will? Lucy! Ah gut! Eh bien, schmolle
so lang' Du willst, ich pfeife d'rauf! Ich möchte wirklich wissen —
weil ich gesagt habe, es fei unvernünftig, Dich so zu schnüren?
Das will doch nicht heißen, daß Du keine schlanke Taille hast! Ich
kann nun einmal die Frauen, welche sich zu stark schnüren, nicht
ausstehenI wenn ich auf der Straße diese Taillen sehe, die man
mit den zehn Fingern umspannen kann und wo man immer Angst
hat, daß sich die Hüften ausrenken, was willst Du — das verdirbt
mir das Vergnügen und ich habe Lust, ein Messer zu nehmen und
das Frauenzimmer in der Mitte auseinanderzuschneiden. So Hab'
ich die Wespen zerschnitten, als ich klein war ..."

„Papa, was ist denn das für ein schöner Hund am Fenster?
<£r schaut Dich an, Papa, kennt er Dich?"

„Man sollte meinen, es sei das Gesicht eines Mannes, so ge-
scheidt sieht er aus!" bemerkte Papa.

Ein kurzes ironisches Lachen kam aus dem Hintergründe des
Zimmers; der junge Herr in Pantoffeln that, als ob er nichts hörte,
aber er war sehr wüthend.

»Tiens, der Ejerr im dritten Stock zieht sein Hemd aus . . .
Ah, Gott sei Dank, er hat noch einen Tricot darunter an . . .
Donnerwetter! was für Biceps!"

Ehe er geendet hatte, trat eine rothhaarige junge Frau mit
milchweißem Teint und graugrünen Augen an's Fenster, fuhr aber
sofort erröthend zurück, da der schöne Schwarze aus dem dritten
Stock heraufgesehen hatte. Der junge Herr in Pantoffeln folgte
ihr in's Zimmer.

»Voyons, ma petite Lucienne! Was Hab' ich denn gesagt?
Ich habe nicht recht gesehen? Nein? Du bist nicht zu stark ge-
schnürt? Es sitzt sehr gut, dieses Korsett! Allons, faisons la paix,
ma cocotte!«

Und als gewissenhafter Mann, der die Frage genau unter-
suchen will, faßte er sie um die Taille.

„Hör' auf, oder ich beiße!" schrie die junge Frau und zeigte
drohend ihre scharfen, blanken Katzenzähne.

„Beiße", sagte der Gatte, nicht im mindesten beunruhigt.

»Ich beiße Dich in die Nase, ich warne Dich!" erklärte die
kleine Frau, welche in diesem Augenblicke nichts weniger als gut-
müthig aussah.

Gewitterregen

Im fünften Stock des gegenüberliegenden Hauses faß in einem
Fauteuil auf dem Balkon ein dicker alter Herr. Tr keuchte laut
vor Asthma, die Augen traten ihm aus dem Schädel, und mit feinem
offenen Munde glich er einem halbverendeten Karpfen. Im dritten
Stock stand ein schöner schwarzer Herr, der sehr häufig gähnte und
sich mit einem Zeitungsblatte Kühlung zufächelte. Im Zweiten
hatte ein schlanker Jagdhund die beiden Vorderfüße auf das Fenster-
sims gesetzt und reckte übermäßig die Zunge heraus. Im Erd-
geschoß sah man durch die weißen Vorhänge hindurch ein paar
junge Wäscherinnen, welche das Korsett ausgezogen hatten und
mit bloßen Armen arbeiteten, vor der Hausthüre war die Lon-
cidrge auf einem Stuhle zusammengesunken und schlummerte, von
Zeit zu Zeit durch eine Fliege ausgeschreckt.

„Bei Gott, sie haben heiß!" sagte ein großer junger Herr
in Pantoffeln und einem abgetragenen, aber sehr sauberen Rock,
der auf seinem Balkon im fünften Stock die Nachbarn des gegen-
überliegenden Hauses betrachtete. Tr warf einen melancholischen
Blick auf die orangefarbenen Kapuzinerblumen, welche sich um das
Blätterwerk des Balkongitters rankten und auf den bleiernen
Himmel, von dem eine wahre Backofenhitze niederfiel.

„Lucy, komm' doch!" rief er.

Niemand kam, aber eine angenehm klingende Stimme mit
dem kurzen, trockenen Ausdruck eines verzogenen Kindes, das
schmollt, antwortete: „Geh, Poulou, geh, mein Liebling, Papa
ruft Dich auf dein Balkon."

Lin kleiner Junge mit einer Wange, die wie ein Luftballon
angeschwollen und mit einem Taschentuch verbunden war, erschien
auf dem Balkon.

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Register
Angelo Jank: Entwurf zu einem landwirtschaftlichen Diplom
René Montbois: Gewitterregen
 
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