1896
JUGEND
Nr. 32
Am Gletscher
Die Absicht, über Nacht im Dorf zu
bleiben, geben wir, angesichts des herr-
lichen Wetters, auf, stecken das Noth-
wendigste in die Taschen und über-
lassen die Rucksäcke den Führern, die
uns Tags darauf nachkommen wollen.
— Stellt doch der fromme Tiroler die
Pflicht für sein SeelenheiUüber die
Pflicht als Bergführer und ist schwer-
lich dazu zu bewegen, seine Sonntags-
messe im Stich zu lassen. — Auf dem
gutgepflegten Saumpfad begegnen uns
die Bewohner der einsamen Hochthäler
in ihrem besten Sonntagsstaat. Sie haben
mit Kind und Kegel ihren Kirchgang be-
reits angetreten und werden zur Nacht
drunten im Dorf ein gastliches Heulager
finden. Die jüngsten Kirchgänger trägt
derVater in einem Korb auf dem Rücken,
und ist der Segen Gottes etwas rasch
aufeinander gefolgt, dann schauen aus
dem improvisirten Neste wohl auch zwei
höft, ein Kirchlein, oder ein bescheid-
enes Schiösslein auf, und vom Azur-
blau des klarsten Septemberhimmels
heben sich die ersten ragenden Spitzen
der grossen Tauern ab und bilden mi.
den glänzenden Firnen einen imposanten
Abschluss. Saftige Wiesenkränze ziehen
die Berglehne entlang, und an der Thal-
sohle terrassenartig - regellos hinge-
streut erscheint das Dorf Windisch-
Matrei.
Die Isel mit ihren Nebenbächen wälzt
sich hier in weitverzweigtem Delta durch
gelb-grauen Schlamm, aus welchem
windschiefe Heustadel ihre freigelegten
Bohlen wie anklagende Arme gen Him-
mel strecken. Erst vor wenigen Tagen
hat ein schweres Wetter über dem Dorf
gehaust, den Bürgerbach zum reissen-
den Strom angeschwellt, dass er die
starken Mauerdämme übersprang, sich
mit rasender Gewalt in’s Dorf ergoss
und dann im Verein mit der Isel Alles
fortriss, was am Wege lag. Ein Theil
der Heerden war ertrunken, und die
grosse Gemeindeweide auf Jahre hinaus
in eine Schlamm-Wüste verwandelt.
Im Dorf mischt sich die gedrückte
Stimmung mit der Geschäftigkeit, die
störenden Heberreste jenes Schreckens-
tages aus dem Wege zu räumen. Mit
Aexten und Sägen bewaffnet, sind die
Männer dabei, ihre kleinen Häuser aus-
zubessern; Andere schaufeln den her-
untergeschwemmten Schotter aus det
Gasse oder schleifen an Seilen Bäume
hinter sich her, die, ihrem Boden so
plötzlich entrissen, mit den Wurzeln die
Mutter-Erde noch umklammern.
.ugspitze vom Frtllensee Gez. v. w. Oertei.
vergnügte Gelbschnäbel. — Der Weg
führt durch Nadelwälder oder zieht sich
an schluchtartigen, dunklen Wänden
entlang. Dann verbinden Stege die Fel-
sen und führen über das Wasser hin-
weg, welches in mächtigen Kaskaden
aus schwindelnder Höhe stürzt und sich
tief unten donnernd und tosend durch
die engste Felsengasse zwängt.
Die Sterne funkeln längst am nacht-
klaren Himmel, als das weisse Bauern-
haus mit den gastlich erleuchteten Fen-
stern aus dem Dunkel auftaucht, und
obwohl sich bei Forellen und Rehrücken
die Stimmung bis zum Glühwein steig-
ert, folgen wir doch verhältnissmässig
frühzeitig der Wirthin über die steile
Leitertreppe in unser Nachtquartier.
Wie sie auch mir ein Zimmerchen öff-
net, tritt ein Herr mit einer Frage an
sie heran. Es erfolgt zwischen uns ein
Augenblick überrascht-zweifelnder Be-
obachtung und dann gegenseitiges Er-
kennen. Aber es ist zu spät für heute,
und mit einem vertröstenden „Auf Mor-
gen“ werden nur die allernächstliegen-
den Fragen erörtert.
Die Begegnung erweckte in mir Er-
innerungen, die ich ebenfalls „auf Mor-
gen“ vertrösten will, aber ich mache
die Rechnung ohne meinen Strohsack.
Ein Gebirgsstrohsack will alljährlich
neu studirt sein, und in demselben
widerspenstigen Verhältniss zu den Ge-
pflogenheiten des verweichlichten Städt-
ers stehen die Gebirgs-Federbetten.
Alles massig, fest und schwer, nirgends
elastisches Nachgeben. Meine Müdig-
keit kommt vorerst gegen diese Uner-
Von Marie Netter.
Das Iselthal bietet an seinem Anfang
dem Wanderer nicht viel, aber bald wirkt
die Macht des Hochgebirges. Die Berge
rücken näher zusammen, neue Spitzen
treten hervor und verschieben sich bei
der Biegung des Weges coulissenartig,
um andern den Vorrang zu lassen, kühl
und staubfrei weht die Luft aus den
engen Seitenthälern, von den Wänden
stürzen Wildbäche und gesellen sich in
schäumender Umarmung der stürmisch
brausenden Isel, Mühlen klappern, die
kümmerliche Feldfrucht steht zum
Trocknen sorgfältig auf Nuppen auf-
gereiht und in den Frieden der Land-
schaft mischt sich das harmonische
Geläute der Heerdenglocken.
Hier und dort taucht, hoch oben
über dem dünnen Kiefernwald, ein Ge-
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Nr. 32
Am Gletscher
Die Absicht, über Nacht im Dorf zu
bleiben, geben wir, angesichts des herr-
lichen Wetters, auf, stecken das Noth-
wendigste in die Taschen und über-
lassen die Rucksäcke den Führern, die
uns Tags darauf nachkommen wollen.
— Stellt doch der fromme Tiroler die
Pflicht für sein SeelenheiUüber die
Pflicht als Bergführer und ist schwer-
lich dazu zu bewegen, seine Sonntags-
messe im Stich zu lassen. — Auf dem
gutgepflegten Saumpfad begegnen uns
die Bewohner der einsamen Hochthäler
in ihrem besten Sonntagsstaat. Sie haben
mit Kind und Kegel ihren Kirchgang be-
reits angetreten und werden zur Nacht
drunten im Dorf ein gastliches Heulager
finden. Die jüngsten Kirchgänger trägt
derVater in einem Korb auf dem Rücken,
und ist der Segen Gottes etwas rasch
aufeinander gefolgt, dann schauen aus
dem improvisirten Neste wohl auch zwei
höft, ein Kirchlein, oder ein bescheid-
enes Schiösslein auf, und vom Azur-
blau des klarsten Septemberhimmels
heben sich die ersten ragenden Spitzen
der grossen Tauern ab und bilden mi.
den glänzenden Firnen einen imposanten
Abschluss. Saftige Wiesenkränze ziehen
die Berglehne entlang, und an der Thal-
sohle terrassenartig - regellos hinge-
streut erscheint das Dorf Windisch-
Matrei.
Die Isel mit ihren Nebenbächen wälzt
sich hier in weitverzweigtem Delta durch
gelb-grauen Schlamm, aus welchem
windschiefe Heustadel ihre freigelegten
Bohlen wie anklagende Arme gen Him-
mel strecken. Erst vor wenigen Tagen
hat ein schweres Wetter über dem Dorf
gehaust, den Bürgerbach zum reissen-
den Strom angeschwellt, dass er die
starken Mauerdämme übersprang, sich
mit rasender Gewalt in’s Dorf ergoss
und dann im Verein mit der Isel Alles
fortriss, was am Wege lag. Ein Theil
der Heerden war ertrunken, und die
grosse Gemeindeweide auf Jahre hinaus
in eine Schlamm-Wüste verwandelt.
Im Dorf mischt sich die gedrückte
Stimmung mit der Geschäftigkeit, die
störenden Heberreste jenes Schreckens-
tages aus dem Wege zu räumen. Mit
Aexten und Sägen bewaffnet, sind die
Männer dabei, ihre kleinen Häuser aus-
zubessern; Andere schaufeln den her-
untergeschwemmten Schotter aus det
Gasse oder schleifen an Seilen Bäume
hinter sich her, die, ihrem Boden so
plötzlich entrissen, mit den Wurzeln die
Mutter-Erde noch umklammern.
.ugspitze vom Frtllensee Gez. v. w. Oertei.
vergnügte Gelbschnäbel. — Der Weg
führt durch Nadelwälder oder zieht sich
an schluchtartigen, dunklen Wänden
entlang. Dann verbinden Stege die Fel-
sen und führen über das Wasser hin-
weg, welches in mächtigen Kaskaden
aus schwindelnder Höhe stürzt und sich
tief unten donnernd und tosend durch
die engste Felsengasse zwängt.
Die Sterne funkeln längst am nacht-
klaren Himmel, als das weisse Bauern-
haus mit den gastlich erleuchteten Fen-
stern aus dem Dunkel auftaucht, und
obwohl sich bei Forellen und Rehrücken
die Stimmung bis zum Glühwein steig-
ert, folgen wir doch verhältnissmässig
frühzeitig der Wirthin über die steile
Leitertreppe in unser Nachtquartier.
Wie sie auch mir ein Zimmerchen öff-
net, tritt ein Herr mit einer Frage an
sie heran. Es erfolgt zwischen uns ein
Augenblick überrascht-zweifelnder Be-
obachtung und dann gegenseitiges Er-
kennen. Aber es ist zu spät für heute,
und mit einem vertröstenden „Auf Mor-
gen“ werden nur die allernächstliegen-
den Fragen erörtert.
Die Begegnung erweckte in mir Er-
innerungen, die ich ebenfalls „auf Mor-
gen“ vertrösten will, aber ich mache
die Rechnung ohne meinen Strohsack.
Ein Gebirgsstrohsack will alljährlich
neu studirt sein, und in demselben
widerspenstigen Verhältniss zu den Ge-
pflogenheiten des verweichlichten Städt-
ers stehen die Gebirgs-Federbetten.
Alles massig, fest und schwer, nirgends
elastisches Nachgeben. Meine Müdig-
keit kommt vorerst gegen diese Uner-
Von Marie Netter.
Das Iselthal bietet an seinem Anfang
dem Wanderer nicht viel, aber bald wirkt
die Macht des Hochgebirges. Die Berge
rücken näher zusammen, neue Spitzen
treten hervor und verschieben sich bei
der Biegung des Weges coulissenartig,
um andern den Vorrang zu lassen, kühl
und staubfrei weht die Luft aus den
engen Seitenthälern, von den Wänden
stürzen Wildbäche und gesellen sich in
schäumender Umarmung der stürmisch
brausenden Isel, Mühlen klappern, die
kümmerliche Feldfrucht steht zum
Trocknen sorgfältig auf Nuppen auf-
gereiht und in den Frieden der Land-
schaft mischt sich das harmonische
Geläute der Heerdenglocken.
Hier und dort taucht, hoch oben
über dem dünnen Kiefernwald, ein Ge-
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