Nr. 32
JUGEND
1896
Märchen Zeichnung von Fritz Rehtn.
bittlichkeit nicht auf, und anstatt des er-
sehnten Morpheus treten die Remini-
scenzen in ihr Recht und bemächtigen sich
der langen dürren Gestalt des Gonsul Brand
bis auf den schwarzgewichsten Schnurrbart
und die krachenden Stiefel. —
Also mit seiner Frau ist er hier. —
Wie hat denn diese leidende Frau, welche
vor zehn Jahren schon jeder Lufthauch
umblies, das fertig gebracht? — Und da
taucht auch sofort das Conservatorium
auf mit Elli, mit der schönen, blonden,
schlanken Elli, . die übermüthig umher-
schaut, irgend eine Schnurre erzählt oder
mit seltener Schärfe ihre Umgebung
fixirt. Eine unerschöpfliche Quelle der
Belustigung und des Zornes ist ihr der
Gonsul: „dieser Don Quixote, der die
arme Musik als Rosinante tummelt. Wo
eine Fiedel streicht, sitzt er im Comitö,
legt die Stirne in die wichtigsten Falten
und kann doch eine Beethoven-Sonate nicht
von einem Wiener Walzer unterscheiden.
Was braucht denn dieser Parvenü die
edle Muse zu prostituiren und weshalb
muss der widerliche Geck gerade mich
mit seiner Neigung beehren? Ah! solch
ein Kerl!“ — und Elli ballt die kleine
Hand zur Faust und holt weit aus, als
wollte sie die grosse Herde der hohlköpfi-
gen Lüstlinge mit dem einen Schlag zu
Boden schmettern. —
Oh Elli! Du begabtes Wundermädel!
Wann und wo und wie werde ich Dich
dereinst wiederfinden? —
Bei dieser Frage an das Schicksal
mache ich den letzten verzweifelten Ver-
such, meinem Strohsack eine vortheilhafte
Seite abzugewinnen und, überlegend, ob
für meine vergötterte Conservatoriums-
Collegin eine Villa am Lago Maggiore
oder der Lehrstuhl einer — vorerst noch
amerikanischen Akademie der würdigere
Sitz wäre, dämmere ich bei phantastischer
Detailmalerei dieser Gegensätze langsam
hinüber in’s Land der Träume.
Wie ich erwache, kämpft die Sonne be-
reits mit dem Frühnebel, der sich ärgerlich
zusammenballt, dann wieder zerreisst, einen
Blick auf die frischvergoldeten Schnee-
berge gestattet und sich endlich langsam
und widerstrebend in Wälder und Klüfte
senkt. Die Matten sind mit Reif über-
zogen und am Brunnen hängen lange Eis-
zapfen. Das Rauschen des silberhellen
Forellenbaches dringt herüber und von
Zeit zu Zeit verkündet die Stimme eines
Raubvogels den Kampf der Kreatur mit
ihrem Ueberwinder.
Bald wird es regsam im Hause. Die
männlichen Insassen beginnen ein sonn-
tägliches Reinigungswerk am Brunnen,
Thüren werden auf- und zugemacht, Tour-
isten in schweren Nagelschuhen tappen
über den Corridor und landen auf der
balkonartigen Gallerie, auf welche auch
mein Fensterchen mündet. Jeder stellt
meteorologische Betrachtungen an oder
rekapitulirt am vergleichenden Baedeker
die Namen der umliegenden Berge.
Ein Cigarettchen zwischen Zeige- und
Mittelfinger balancirend, schlendert jetzt
auch ein junger Mann heraus, der die
Aufmerksamkeit der Uebrigen bald auf
sich lenkt. Aber halt — das ist ja kein
Mann, das ist eine Dame in der bei ko-
ketten oder kühnen Bergsteigerinnen nun-
mehr üblichen Gebirgs-Emancipation. Das
Kostüm ist praktisch und zugleich äusserst
elegant und sitzt der schlanken Figur aus-
gezeichnet. Ueber die derben Schuhe
sind Loden-Gamaschen geknöpft und auf
dem zierlichen Kopf mit dem aschblonden
Gelock sitzt etwas keck das grüne Hüt-
chen mit der Spielhahnfeder.
Das erinnert mich Alles an Etwas und
an Jemand, nur steht mein »Jemand« viel
grösser in meinem Gedächtniss. — Oder
sollten Pumphosen und Joppe die optische
Täuschung bewirken? — Wie ich gerade
den Entschluss fasse, mein schönes Ob-
servatorium vermittelst eines Sprunges
auf die Gallerie zu verlassen, dreht die
Dame den Kopf um und — da steht sie
auch schon neben mir.
Wettergebräunt schaut — Elli aus
und schöner denn je. Sie hat den Venediger
von der beschwerlichen Nordseite »ge-
nommen« und vollständig traversirt. Heute
nöthigt sie die Frömmigkeit der Führer,
gleich uns, zur Rast. Sie will noch auf
den Glöckner und sich alsdann durch
die Dolomiten hinüber nach Italien
»schlängeln«. — Das wirft sie leicht hin,
wie einer von seiner Morgen-Promenade
durch die Anlagen erzählt. Dann wird
sie still und steckt sich eine frische
Cigarette an. Ich hätte gerne etwas über
ihr Leben gewusst, aber ich habe eine
eigenthümliche Scheu vor der Frage. Sie
steht an mein Fensterbrett gelehnt und
träumt vor sich hin, als hätte sie meine
Gegenwart bereits vergessen. — Die Sonne
ist inzwischen vollständig Herr der Situa-
tion geworden und legt sich mit breitem
Glanz über die Matten und verwandelt
den Reif in Myriaden funkelnder Thau-
tröpfchen.
„Sichst Du die grosse Wahrheit! —
Die ewige Natur belügt uns nie. Sie ver-
spricht unendlich viel und hält tausend-
mal mehr.“
„Und sonst, Elli — und sonst?“
„Alles Humbug.“
Sie thut einen Zug aus der Cigarette
und schaut andächtig den Rauchwölkchen
nach. — „Meine Erziehung war Humbug,
weil sie mich im Wahn eines starken Be-
sitzes und eines starken Talentes auf-
wachsen Hess. Der Erstere verging mit
meinen Eltern, das Letztere bei der Stich-
probe. Niemand konnte einen richtigen
Gebrauch von meinen Kenntnissen machen,
am wenigsten ich selbst. Hundert Talente
hatte ich und kein einziges Talent. Dazu
gerade Geist genug, das zu begreifen. Ein
bischen Tantalus, ein bischen Prometheus.
— Ich hospitirte bei Künsten und Wissen-
schaften und langte an der Selbstkritik
an. Aber dann wurde es leer um mich
und einsam. — Die Einsamkeit will ge-
lernt sein und ich war jung. Es wuchs
unwiderstehlich ein Mächtiges in mir
empor, die Sehnsucht nach einem Wesen,
welches zum mindesten ein Verständniss
hätte für meine Schmerzen, und der Ein-
same legt so vertrauend seine Hand in
die anscheinend biedere Rechte, die sich
ihm hilfreich entgegenstreckt. — Ein Ideal
ist etwas, was man sich selbst schafft, und
mein Gott stand auf thönernen Füssen,
und dennoch konnte ich das Rütteln nicht
lassen. — Humbug — Scherben! — Ich
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1896
Märchen Zeichnung von Fritz Rehtn.
bittlichkeit nicht auf, und anstatt des er-
sehnten Morpheus treten die Remini-
scenzen in ihr Recht und bemächtigen sich
der langen dürren Gestalt des Gonsul Brand
bis auf den schwarzgewichsten Schnurrbart
und die krachenden Stiefel. —
Also mit seiner Frau ist er hier. —
Wie hat denn diese leidende Frau, welche
vor zehn Jahren schon jeder Lufthauch
umblies, das fertig gebracht? — Und da
taucht auch sofort das Conservatorium
auf mit Elli, mit der schönen, blonden,
schlanken Elli, . die übermüthig umher-
schaut, irgend eine Schnurre erzählt oder
mit seltener Schärfe ihre Umgebung
fixirt. Eine unerschöpfliche Quelle der
Belustigung und des Zornes ist ihr der
Gonsul: „dieser Don Quixote, der die
arme Musik als Rosinante tummelt. Wo
eine Fiedel streicht, sitzt er im Comitö,
legt die Stirne in die wichtigsten Falten
und kann doch eine Beethoven-Sonate nicht
von einem Wiener Walzer unterscheiden.
Was braucht denn dieser Parvenü die
edle Muse zu prostituiren und weshalb
muss der widerliche Geck gerade mich
mit seiner Neigung beehren? Ah! solch
ein Kerl!“ — und Elli ballt die kleine
Hand zur Faust und holt weit aus, als
wollte sie die grosse Herde der hohlköpfi-
gen Lüstlinge mit dem einen Schlag zu
Boden schmettern. —
Oh Elli! Du begabtes Wundermädel!
Wann und wo und wie werde ich Dich
dereinst wiederfinden? —
Bei dieser Frage an das Schicksal
mache ich den letzten verzweifelten Ver-
such, meinem Strohsack eine vortheilhafte
Seite abzugewinnen und, überlegend, ob
für meine vergötterte Conservatoriums-
Collegin eine Villa am Lago Maggiore
oder der Lehrstuhl einer — vorerst noch
amerikanischen Akademie der würdigere
Sitz wäre, dämmere ich bei phantastischer
Detailmalerei dieser Gegensätze langsam
hinüber in’s Land der Träume.
Wie ich erwache, kämpft die Sonne be-
reits mit dem Frühnebel, der sich ärgerlich
zusammenballt, dann wieder zerreisst, einen
Blick auf die frischvergoldeten Schnee-
berge gestattet und sich endlich langsam
und widerstrebend in Wälder und Klüfte
senkt. Die Matten sind mit Reif über-
zogen und am Brunnen hängen lange Eis-
zapfen. Das Rauschen des silberhellen
Forellenbaches dringt herüber und von
Zeit zu Zeit verkündet die Stimme eines
Raubvogels den Kampf der Kreatur mit
ihrem Ueberwinder.
Bald wird es regsam im Hause. Die
männlichen Insassen beginnen ein sonn-
tägliches Reinigungswerk am Brunnen,
Thüren werden auf- und zugemacht, Tour-
isten in schweren Nagelschuhen tappen
über den Corridor und landen auf der
balkonartigen Gallerie, auf welche auch
mein Fensterchen mündet. Jeder stellt
meteorologische Betrachtungen an oder
rekapitulirt am vergleichenden Baedeker
die Namen der umliegenden Berge.
Ein Cigarettchen zwischen Zeige- und
Mittelfinger balancirend, schlendert jetzt
auch ein junger Mann heraus, der die
Aufmerksamkeit der Uebrigen bald auf
sich lenkt. Aber halt — das ist ja kein
Mann, das ist eine Dame in der bei ko-
ketten oder kühnen Bergsteigerinnen nun-
mehr üblichen Gebirgs-Emancipation. Das
Kostüm ist praktisch und zugleich äusserst
elegant und sitzt der schlanken Figur aus-
gezeichnet. Ueber die derben Schuhe
sind Loden-Gamaschen geknöpft und auf
dem zierlichen Kopf mit dem aschblonden
Gelock sitzt etwas keck das grüne Hüt-
chen mit der Spielhahnfeder.
Das erinnert mich Alles an Etwas und
an Jemand, nur steht mein »Jemand« viel
grösser in meinem Gedächtniss. — Oder
sollten Pumphosen und Joppe die optische
Täuschung bewirken? — Wie ich gerade
den Entschluss fasse, mein schönes Ob-
servatorium vermittelst eines Sprunges
auf die Gallerie zu verlassen, dreht die
Dame den Kopf um und — da steht sie
auch schon neben mir.
Wettergebräunt schaut — Elli aus
und schöner denn je. Sie hat den Venediger
von der beschwerlichen Nordseite »ge-
nommen« und vollständig traversirt. Heute
nöthigt sie die Frömmigkeit der Führer,
gleich uns, zur Rast. Sie will noch auf
den Glöckner und sich alsdann durch
die Dolomiten hinüber nach Italien
»schlängeln«. — Das wirft sie leicht hin,
wie einer von seiner Morgen-Promenade
durch die Anlagen erzählt. Dann wird
sie still und steckt sich eine frische
Cigarette an. Ich hätte gerne etwas über
ihr Leben gewusst, aber ich habe eine
eigenthümliche Scheu vor der Frage. Sie
steht an mein Fensterbrett gelehnt und
träumt vor sich hin, als hätte sie meine
Gegenwart bereits vergessen. — Die Sonne
ist inzwischen vollständig Herr der Situa-
tion geworden und legt sich mit breitem
Glanz über die Matten und verwandelt
den Reif in Myriaden funkelnder Thau-
tröpfchen.
„Sichst Du die grosse Wahrheit! —
Die ewige Natur belügt uns nie. Sie ver-
spricht unendlich viel und hält tausend-
mal mehr.“
„Und sonst, Elli — und sonst?“
„Alles Humbug.“
Sie thut einen Zug aus der Cigarette
und schaut andächtig den Rauchwölkchen
nach. — „Meine Erziehung war Humbug,
weil sie mich im Wahn eines starken Be-
sitzes und eines starken Talentes auf-
wachsen Hess. Der Erstere verging mit
meinen Eltern, das Letztere bei der Stich-
probe. Niemand konnte einen richtigen
Gebrauch von meinen Kenntnissen machen,
am wenigsten ich selbst. Hundert Talente
hatte ich und kein einziges Talent. Dazu
gerade Geist genug, das zu begreifen. Ein
bischen Tantalus, ein bischen Prometheus.
— Ich hospitirte bei Künsten und Wissen-
schaften und langte an der Selbstkritik
an. Aber dann wurde es leer um mich
und einsam. — Die Einsamkeit will ge-
lernt sein und ich war jung. Es wuchs
unwiderstehlich ein Mächtiges in mir
empor, die Sehnsucht nach einem Wesen,
welches zum mindesten ein Verständniss
hätte für meine Schmerzen, und der Ein-
same legt so vertrauend seine Hand in
die anscheinend biedere Rechte, die sich
ihm hilfreich entgegenstreckt. — Ein Ideal
ist etwas, was man sich selbst schafft, und
mein Gott stand auf thönernen Füssen,
und dennoch konnte ich das Rütteln nicht
lassen. — Humbug — Scherben! — Ich
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