Nr. 32
JUGEND
1896
verlangte ein Herz, wo er das Ganze, so-
zusagen die Kapsel verlangte. Was lag
am Inhalt? oder vielmehr: je weniger In-
halt, desto besser. Reflexionen stören den
Genuss.
Nun erst war ich ganz allein mit meinem
ungeheuren Katzenjammer. Ich nahm den
letzten Rest meines eingezehrten Kapitals
und reiste nach Italien. Weshalb sollte
ich mir die Henkersmahlzeit versagen? —
Aber auf dieser Reise lernte ich etwas
kennen, was ich nicht gesucht, noch ge-
ahnt hatte: die gewaltige schaffende Natur.
Ich vergass über dem packenden Schau-
spiel mein dunkles Ziel und erschrak, als
ich eines Tages plötzlich davor stand. Die
Welt hielt mich gerade in dem Moment
mit tausend Fangarmen fest, wie die Hand
leise über die Tasche strich, in welcher
der Revolver stak. — Schliesslich hatte
ich ja noch einen Tag Zeit.
Ich trat den Rückweg an und begegnete
einem Wagen. Das Gefährt hielt an und
Jemand sprang heraus und rief meinen
Namen. Es war der Gonsul Brand mit
seiner Frau, die Letztere sorgfältig in
Tücher verpackt. Frau Brand war gerade
in Verlegenheit um eine Gesellschafterin,
die ihrige hatte sie sehr plötzlich ver-
lassen. Ich gab den vereinten Bitten des
Ehepaares nach, stieg ein und fuhr mit
bis nach Catania, wo wir den Winter ver-
brachten. Im Frühling kehrten wir in
langsamen Etappen nach Deutschland
zurück; Frau Brand wollte — in ihrem
eigenen Bette sterben.c
Stossweise und tonlos hat Elfi dies
Alles vorgebracht, als erzähle sie die Ge-
schichte einer dritten Person. Nun steht
sie und lauscht den Schritten, die über
den Corridor kommen. Gonsul Brand
hat die Morgentoilette beendigt und gibt
Eilt einen zärtlichen Morgenkuss.
»Du kennst ja meinen Mann von früher«,
sagt sie mit einer vorstellenden Hand-
bewegung zu mir.
Mich friert plötzlich und ich weiss im
Augenblick nichts zu sagen. Es ist mir
lieb, dass ich zum Frühstück abgerufen
werde. Bald darauf brechen wir auf. —
Der Abschied von Elfi vollzieht sich ohne
jede Sentimentalität. Man verspricht, ein-
ander zu schreiben und weiss genau, dass
das nie geschehen wird. Ich habe ein
unendliches Mitleid mit ihr, aber sie ver-
langt keins, sie hat sich längst an die Ein-
samkeit gewöhnt. Sie erinnert mich an das
fossile Dasein einer Fliege im Bernstein.
Elii merkt mir so etwas an, und ein
spöttischer Zug, der ihrem Gesichte etwas
Fremdes gibt, legt sich um ihre Lippen,
wie sie mir die Hand zum Abschied reicht.
„Sieh Dir den Venediger heute Abend
genau an. Die Beleuchtung wird voraus-
sichtlich grossartig werden. Und sonst? —
vergiss nicht: Alles ist Humbug.“ —
Elfi hat richtig prophezeit. Die silberne
Mondsichel steht schon klar im Norden,
wie wir an der Prager Hütte anlangen und
an dem ungeheuren Himmelsdom vollzieht
sich die Abendstimmung, die vom leuch-
tenden Purpur bis zum matten Stahlblau
die ganze Farben-Skala durchläuft. Der
feurige Sonnenball lässt sich gerade auf
den stolzen Gletscher nieder, der viel,
viel weisser ist, als Alles, was diese Be-
zeichnung führt. Eine Folie der farben-
prächtigen Kuppel. Aber diese Gluth kann
ihn nicht erwärmen, er wirft die Strahlen
verächtlich zurück, er bleibt gross und
einsam, und kalt weht’s von ihm herüber.
Fröstelnd zieht Jeder seinen Mantel um
die Schultern, ich aber denke an Elli und
stehe am Gletscher.
Zur Saison
5H
JUGEND
1896
verlangte ein Herz, wo er das Ganze, so-
zusagen die Kapsel verlangte. Was lag
am Inhalt? oder vielmehr: je weniger In-
halt, desto besser. Reflexionen stören den
Genuss.
Nun erst war ich ganz allein mit meinem
ungeheuren Katzenjammer. Ich nahm den
letzten Rest meines eingezehrten Kapitals
und reiste nach Italien. Weshalb sollte
ich mir die Henkersmahlzeit versagen? —
Aber auf dieser Reise lernte ich etwas
kennen, was ich nicht gesucht, noch ge-
ahnt hatte: die gewaltige schaffende Natur.
Ich vergass über dem packenden Schau-
spiel mein dunkles Ziel und erschrak, als
ich eines Tages plötzlich davor stand. Die
Welt hielt mich gerade in dem Moment
mit tausend Fangarmen fest, wie die Hand
leise über die Tasche strich, in welcher
der Revolver stak. — Schliesslich hatte
ich ja noch einen Tag Zeit.
Ich trat den Rückweg an und begegnete
einem Wagen. Das Gefährt hielt an und
Jemand sprang heraus und rief meinen
Namen. Es war der Gonsul Brand mit
seiner Frau, die Letztere sorgfältig in
Tücher verpackt. Frau Brand war gerade
in Verlegenheit um eine Gesellschafterin,
die ihrige hatte sie sehr plötzlich ver-
lassen. Ich gab den vereinten Bitten des
Ehepaares nach, stieg ein und fuhr mit
bis nach Catania, wo wir den Winter ver-
brachten. Im Frühling kehrten wir in
langsamen Etappen nach Deutschland
zurück; Frau Brand wollte — in ihrem
eigenen Bette sterben.c
Stossweise und tonlos hat Elfi dies
Alles vorgebracht, als erzähle sie die Ge-
schichte einer dritten Person. Nun steht
sie und lauscht den Schritten, die über
den Corridor kommen. Gonsul Brand
hat die Morgentoilette beendigt und gibt
Eilt einen zärtlichen Morgenkuss.
»Du kennst ja meinen Mann von früher«,
sagt sie mit einer vorstellenden Hand-
bewegung zu mir.
Mich friert plötzlich und ich weiss im
Augenblick nichts zu sagen. Es ist mir
lieb, dass ich zum Frühstück abgerufen
werde. Bald darauf brechen wir auf. —
Der Abschied von Elfi vollzieht sich ohne
jede Sentimentalität. Man verspricht, ein-
ander zu schreiben und weiss genau, dass
das nie geschehen wird. Ich habe ein
unendliches Mitleid mit ihr, aber sie ver-
langt keins, sie hat sich längst an die Ein-
samkeit gewöhnt. Sie erinnert mich an das
fossile Dasein einer Fliege im Bernstein.
Elii merkt mir so etwas an, und ein
spöttischer Zug, der ihrem Gesichte etwas
Fremdes gibt, legt sich um ihre Lippen,
wie sie mir die Hand zum Abschied reicht.
„Sieh Dir den Venediger heute Abend
genau an. Die Beleuchtung wird voraus-
sichtlich grossartig werden. Und sonst? —
vergiss nicht: Alles ist Humbug.“ —
Elfi hat richtig prophezeit. Die silberne
Mondsichel steht schon klar im Norden,
wie wir an der Prager Hütte anlangen und
an dem ungeheuren Himmelsdom vollzieht
sich die Abendstimmung, die vom leuch-
tenden Purpur bis zum matten Stahlblau
die ganze Farben-Skala durchläuft. Der
feurige Sonnenball lässt sich gerade auf
den stolzen Gletscher nieder, der viel,
viel weisser ist, als Alles, was diese Be-
zeichnung führt. Eine Folie der farben-
prächtigen Kuppel. Aber diese Gluth kann
ihn nicht erwärmen, er wirft die Strahlen
verächtlich zurück, er bleibt gross und
einsam, und kalt weht’s von ihm herüber.
Fröstelnd zieht Jeder seinen Mantel um
die Schultern, ich aber denke an Elli und
stehe am Gletscher.
Zur Saison
5H