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Mimicry
Die Fähigheit, im offensiven und
defensiven Kampfe um’s Dasein seine
eigentliche Individualität verschwinden zu
machen und sich täuschend seiner Um-
gebung anzupassen oder eine Maske an-
zunehmen, die vor Verfolgung schützt,
nennt man Mimicry. Es gibt Heuschrecken,
die wie dürre Blätter, andere Insekten,
die wie Aststückchen, Schmetterlinge, die
wie Blumen oder auch wie weniger an-
muthige Dinge aussehen, lediglich um
dem Gefressenwerden zu entgehen. Eine
Menge von Thieren trägt die Farben der
Orte, an denen sie leben. Der Flunder passt
sich dem Sand an, auf dem er in beispiel-
loser Faulheit liegt; die Forelle ändert
ihre Farbe je nach dem Wasser, in dem
sie schwimmt, so geschickt, dass die
Portion, der Schwierigkeit des Fanges
halber, im Restaurant 3 Mark kostet;
ganz Aehnliches thun mutatis mutandis
etliche Dutzende oder Millionen anderer
Geshöpfe. Selbst der König der Thiere
findet es nicht unter seiner Würde,
die sandgelbe Livree der Wüste zu
tragen und sich dadurch den Erwerb
seines täglichen Bedarfes an Negern und
Giraffen wesentlich zu erleichtern. Der
Laubfrosch ist so grün, wie das Laub, der
Eisbär so weiss, wie der Schnee rings
umher, und Jeder profitirt davon in sei-
ner Art. Mimicry an allen Ecken und
Enden. Es sind viele Abhandlungen und
Feuilletons über diese biologische Merk-
würdigkeit geschrieben worden, prächtige
Hypothesen hat man über Zweck und Art
der Sache aufgestellt, doch immer hat die
Sache eine Lücke gehabt und man hat das
Nahe über dem Fernen übersehen,nämlich:
Dass das höchststehende und meist-
gekannte Säugethier, homo sapiens, vor
den anderen Geschöpfen die in Rede steh-
ende Fähigkeit besitzt, wenn auch nicht
in allen Exemplaren, so doch in jenen,
in welchen gewisse, sehr häufig vorkom-
mende Charaktereigenschaften als Grund-
bedingung für diese Fähigkeit vorhanden
sind. Kein Wesen bringt es in der Kunst
der „Selbstverleugnung“ und der nutz-
bringenden Anpassung an die Umgebung
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Zeichnungen von Arpad Schmidhammer,
so weit, wie der Mensch; keines kann
Farbe und Form so willkürlich wechseln,
wie er den Farbstoff seines Wesens und
die Form seines Verhaltens zu verän-
dern vermag. Da sind Streber und Par-
venü’s aller Art, Höflinge und Lakaien,
politische Charlatans und Finanzgauner,
Betschwestern beiderlei Geschlechts u.s.w.
u.s. f. Und während die niedrig stehenden
Geschöpfe nur in einer Richtung ihr An-
passungsvermögen zu dokumentiren wis-
sen, leistet die Krone der Schöpfung darin
das Mannigfaltigste und Vielseitigste. Es
gibt Exemplare, die aus den Umwand-
lungen nicht mehr herauskommen, deren
Gestern mit ihrem Heut nicht mehr Aehn-
lichkeit hat, wie die Raupe mit der Puppe,
und deren Morgen sich von dem Heute noch
mehr unterscheiden wird, als der Schmet-
terling von der Puppe. Und so weiter
mit Grazie und immer den Umständen
angemessen!
Da ist zum Beispiel Herr Valentin
Bäumle, einer meiner Bekannten. Schon
früh’, als Kind, zeigte er Spuren seiner
außergewöhnlichen Veranlagung. War er
bei seiner Tante Euphrosine zu Gast, einer
trefflichen alten Dame, die viel Sinn hatte
für Ruhe und Bravheit, so muckte er nicht,
sondern sass still in einer Ecke, machte
ein Gesicht wie ein gothischer Engel und
betrieb im Felle von Euphrosinens Lieb-
lingsmops schweigsam eine Jagd nach
lästigen Parasiten. Aber wenn er bei
Onkel Theodor war, der frische und lust-
ige Buben gern leiden mochte, wie schrie
er da, dass die Wände, wie sprang er,
dass die Dielen wackelten! Und Tante
wie Onkel schenkten dem Jungen, der so
ganz nach ihrem Sinn war, neue Fünfzig-
pfennigstücke für seine Sparbüchse.
Später waren wir zusammen in einem
Seminar, wo uns würdige Benediktiner-
patres für’s Leben vorbereiteten. Oft genug
machte ich mit dem Karzer Bekanntschaft,
weil ich mit dem „Buch der Lieder“ im
Betsal betroffen wurde — Freund Valentin
las den Thomas a Kempis sogar beim
f Essen, und wenn er in der Turnstunde
den Bauchaufschwung machte, fiel ihm
regelmässig ein Amulet oder sonst was
Heiliges aus der Hosentasche. Oh wie
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