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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 38 (19. September 1896)
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Nr. 38

JUGEND

1896

Neuwein-§ied

Das hat Gottvater gut gemacht,

Daß er zum Herbst den wein gebracht,
Den weißen und den rothen.

Die Welt wird alt, der wein ist jung,
Herz bringt und Beine er in Schwung,
wir tanzen ohne Noten.

wir tanzen nach dem ält'sten Takt,

Nach dem im Paradiese nackt
Die Zweie schon sich drehten,

Die unser Aller Eltern sind;
wir tanzen zum Gktoberwind
wie trunkene Propheten.

Daß ihr mir nicht dem Herbste glaubt,

Ls sei nun alles abgelaubt,

Und alle Keime schliefen.

Seht unfern Kranz und unfern Tanz,

Und unserer Augen glühen Glanz:

Es wird was in den Tiefen!

wie dieser junge wein im Faß
Sich gährend regt ohn' Unterlaß
Bis zu der klaren Stärke,

So braut in uns gesunder Sinn
Durch winterniß und Starre hin
Zu neuem Frühlingswerke.

Die Gläser alle an den Mund!

Glaubt nicht dem Herbst! wir sind gesund
Und wollen? auch beweisen.

Der Herrgott hoch! Hat's gut gemacht,
Daß er zum Herbst den wein gebracht,
Den rothen und den weißen!

Dtto Julius Bierbaum.

jZeichnung'-von^Robert/Engels. §

Morgentraum

In den wachen Morgentraum
Sprühen tausend Sildersterne —
Draußen auf den raschen Straßen
Drängt sich lärmend schon das Volk.

Draußen sengte schon die Sonne,

Brütete der Dunst des Standes —

In den wachen Morgentraum
Sprühen tausend Sildersterne.

Milder Lichtschein, güt'ge Ruhe.

Kühl und heilig ist die Lust,

Hoch und dnnkelklar die Welten.

Lange Glockentöne hallen
In den wachen Morgentraum.

Otto Erich bartleben.

Herbstopfer

Einmal noch wie im Verbluten
Sprüht und blüht die Sommerpracht
Lodernd auf in Farbengluthen,

Eh’ sie sinkt in Tod und Nacht.

Züngelnd schlägt die gold’ne Flamme,
Wie zum letzten Opferfest,

Flackernd fort von Stamm zu Stamme
Durch des Hochwald’s Laubgeäst.

Durch die sommermüden Lande
Leuchtet über Wald und Flur
Einmal noch im Opferbrande
Auf die sterbende Natur.

JULIUS LOHMEYER.

Ein Knabe

Von Ida Baccini, deutsch von Hans Jürgens

Sie war ihrer überdrüssig geworden,
all dieser gereiften, eleganten Männer,
die sie alle auf dieselbe Weise liebten, ihr
immer dasselbe sagten, mündlich oder
schriftlich, sie langweilte sich über deren
stereotype Huldigungen, die sie ihr bald
gereimt, bald ungereimt zuschickten, und
die alle doch nur den gleichen Endzweck
verfolgten.

Sollte es wirklich auf der ganzen Welt
keinen Menschen geben, der etwas ver-
schieden war von den Andern, der noch
im Stande sein würde, einen Funken von
Neugier in ihr zu erwecken? — Geht
nicht die Neugier stets dieser sogenannten
Liebe voran?-O Liebe! Du abge-

droschenes, hohles, vielverkanntes Wort!
Bis zum Ueberdruss hatte sie davon ge-
kostet, sie kannte sie unter allen Formen,
errieth sie in ihren leisesten, bescheiden-
sten Anfängen. Die ganze Tonleiter der
Liebe hatte sie durchlaufen von dem par-
fümirten Sonett des poetisch angehauchten
Verehrer’s bis zu dem heisern Stammeln
der brutalen Leidenschaft.

Und nichts weiter war ihr davon zurück-
geblieben, als ein fader Nachgeschmack,
ähnlich demjenigen, den ein Trunkenbold
empfindet, der dann nach überreichlichem
Weingenusse zum Schnaps greift, um die
erschlafften Sinne zu neuer Leistungs-
fähigkeit zu zwingen.-In dieser Peri-

ode war es, dass Aldo Fabian! anfing, in
ihrem Hause zu verkehren. Er war ein
lang aufgeschossener, schmächtiger Junge
von etwa 16 Jahren, mit grossen schwarzen
Augen und einem Munde, der noch kaum
von dem Verdacht eines dunklen Flaums
beschattet wurde. Er trug die Haare in
der Mitte gescheitelt, Hess sich die Nägel
lang wachsen und duftete schon eine Stunde
weit nach Opoponax. Wenn er der Mar-
chesa ein Billet der Mutter oder der Schwe-
stern zu überbringen hatte, war kein ver-
nünftiges Wort aus ihm herauszulocken,
er wusste vor Verlegenheit kaum, was
anfangen.

Steif wie ein Stock stand er vor ihr,
die behaglich auf dem schwellenden Divan
ruhte und das ganze Arsenal weiblicher
Verführungskünste aufbot, um den Feind
capituliren zu sehen.

Capituliren? Gewiss. — Dieser bart-
lose Schuljunge mit seinen grossen Hän-
den, den läppischen Bewegungen, dieser
Gymnasiast, dem sein Professor vor zwei
Monaten noch Thränen entlocken konnte,
dieses Kind, das beim Anblick zweier
blosser Schultern roth wurde, besass für
sie den verführerischen Reiz des Neuen,
des Unbekannten, des — Ungeheuerlichen.

Dieses halbe Kind rasend in sie ver-
liebt zu machen, seine Qualen gleichsam
anatomisch zu zerlegen, mit der Lancette
zu sondiren, zu analysiren, ihn heute an-
zulocken und morgen mit berechneter
Gleichgültigkeit zurückzustossen, erschien
ihr ein Genuss ohne Gleichen, bot ihrer

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Register
Ida Baccini: Ein Knabe
Otto Erich Hartleben: Morgentraum
Robert Engels: Zeichnung ohne Titel
Otto Julius Bierbaum: Neuwein-Lied
Julius Lohmeyer: Herbstopfer
 
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