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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 39 (26. September 1896)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3224#0193

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Nr. 39

JUGEND

1896

und damals konnte eben noch Alles denken,
jeder Stein, jeder Grashalm, jede Heu-
schrecke. Heutzutage ist das natürlich
nicht mehr so, denn sie haben fast Alle so
viel gedacht, dass sie sich vollständig aus-
gedacht haben.

Also das Gebäude dachte folgendes:

„Ich bin doch wirklich sehr gespannt
darauf, was aus mir werden soll. Bis jetzt
kann ich noch nicht recht klug daraus wer-
den. Mein Fundament ist fest und solid,
meine Füsse sind tief in die Granitfelsen
eingegraben. Da bin ich also ganz frost-
sicher. Aber auch oben bin ich mit mir zu-
frieden, alles Stein und Eisen, kein Sturm
kann mir was anhaben. Und hereinregnen
kann’s auch nicht, denn mein Oberstübchen
ist ganz dicht mit lauter farbigen Schiefer-
plättchen belegt. Am meisten freuen mich
die schönen viereckigen Augen, die mir
der Baumeister eingesetzt hat. Nach allen
Landen kann ich sehen und mir nament-
lich meinen schönen Garten betrachten.
Schade nur, dass ich mich nicht selber an-
sehen kann, ich muss einen geradezu ent-
zückenden Anblick gewähren, ich fühle
meine Schönheit, wenn ich sie leider auch
nicht sehen kann.“

„Auch meine innere Einrichtung gefällt
mir sehr“ — so fuhr das Haus in seinen
erfreulichen Betrachtungen fort — „die
vielen luftigen Säle und alle die gemüth-
lichen, kleinen Zimmerchen, alles mit dem
Komfort der Neuzeit ausgestattet, so zum
Beispiel die Centralheizungund die wunder-
hübschen Badezimmer mit warmen und kal-
ten Douchen. Wie herrlich ist das Alles,
und welch vornehme Gesellschaft wird
sich in meinen Räumen bewegen, wenn
der liebe, liebe Baumeister mich erst ganz
fertig gebaut hat. Ich werde ein Königs-
schloss, o wie schön bin ich, o wie stolz
bin ich, o wie dankbar bin ich meinem
Baumeister!“

„Hurrah!“ dachte das Haus weiter, „nun
bringen sie noch Meisterwerke derSchmiede-
kunst vor meinen Fenstern an, natürlich,
denn alle Kostbarkeiten der Welt sollen in
mir aufgespeichert werden, und wie leicht
könnte mal Einer in ein Fenster einsteigen
und die goldenen Teller rauben. Wenn
mein Baumeister nur nicht vergisst, auch
die Zimmer ganz besonders zu schützen,
deren Boden und Wände so weich gepolstert
sind, wie Schmuckkästchen. Hier wird na-
türlich das Kostbarste vom Kostbaren ver-
wahrt werden, die Schätze beider Indien
und das ganze glückliche Arabien!“

Von C. Bittmann, Zeichnungen von Jul. Diei

Wer auf der Milchstrasse so ungefähr
sechs Meilen hinter der Ewigkeit links
vom Weg abbiegt, welcher nach Pfingsten
zu führt, und ein Viertelstündchen auf dem
schmalen Pfad zwischen Brombeerhecken
weitergeht, der kommt an ein schönes,
mächtiges Gebäude mit vielen blinkenden
Fenstern. Lauter schmucke, kleine Häus-
chen liegen dabei und ein herrlicher Gar-
ten. Das Ganze ist von einer hohen Mauer
umgeben und beschützt.

Ja, wenn Du so ungefähr achtzigtausend
Jährchen früher des Wegs daher gekommen
wärest, hättest Du noch eine felsige Einöde
gefunden. Kein Baum, kein Gras, kein
Blümchen, alles starrer, nackter Boden,
grauenhafte Stille! Nicht 'mal eine kleine
Eidechse schlüpfte durch das mooslose
Gestein, und kein Vogel zirpte in der
blauen Luft.

Eines schönen Tages stand ein Bau-
meister auf dem Felsenmeer, der sagte:
„Hier will ich ein grosses Haus bauen und
einen blühenden Garten, und das Alles will
ich in fünf Tagen fertig bringen.“

Der Baumeister hielt sein Wort. Er
machte den Platz schön und eben, er legte
Röhren in die Erde, damit das Wasser ab-
fliesse, und er einen trockenen Bauplatz
erhalte. Dann fing er an zu bauen und
vergass auch nicht, für den Garten zu
sorgen. Da gab es herrliche Rasenplätze,
schattige Laubgänge, prangende Bäume
und blühendes Gebüsch. In einem Theil
des Gartens pflanzte er Schnittlauch und
Meerrettig und Erbsen, Spargeln und viel,
viel Kohl. In die Mitte des Gartens kam
ein köstlicher kleiner See mit einem Spring-
brunnen, dessen Strahlen hoch in die Luft
stiegen und in tausend und abertausend
blinkende Diamanten zerstäubten.

Die Herrlichkeit des Gartens strahlte
weithin, und es dauerte nicht lange, da
kamen aus der Arche Noäh viele hübsche
Thierchen in den Garten und machten es
sich bequem. Da war Alles aitel Freude.
Und in dem See schwammen liebliche
Harzforellen.

Mittlerweile war auch das Gebäude grös-
ser geworden, und wie das Dach fertig war,
da fing das Gebäude zu denken an. Nun
werdet Ihr Euch wundern, dass das Haus
denken konnte, aber Ihr müsst Euch er-
innern, es war vor vielen, vielen Jahren,

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Register
Julius Diez: Zeichnung zum Text "Der Palast"
Carl Bittmann: Der Palast
 
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