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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 52 (26. Dezember 1896)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3224#0426
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Kr. 52 * jÜÖHNb * 1000

Die Lenlaurendroschke A- v- Meissl (München)

Vier Verse

Collegienbruchstücke von Anton Renk.

Thema: „Ich ging im Walde
So für mich hin,

Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.“

Goethe.

Prof. Dr. Ichtler (Philosoph. Stirneri-
aner).

Hieraus ersehen Sie, meine Herren,
welch überzeugter Ichmensch Goethe
war. Kühn stellt er seine gebietende
Persönlichkeit an den Anfang der Verse:
„I ch ging“ ...“ Die Aussen weit berührt
ihn kaum, „für sich“ geht er hin. Das
wichtige ist ihm „mein Sinn,“ das ge-
waltige Pochen auf das Recht der Per-
sönlichkeit dröhnt aus jedem Verse,
der heiligste S u b j e cti v i s m u s der
herrschenden Art...

Prof. Dr. v. Lasky (Psychologe).

Und wohl nichts gibt so sehr die Ruhe
des Mannes wieder, der selbstzufrieden,
ohne einen subjektiven Wunsch hin-
ausgeht, als diese vier Verse. Die ganze
Behaglichkeit der Betrachtung, der stille
Sieg des lautersten Objectivis-

mus spricht aus diesen vier Versen_

Prof. Dr. Maniakaleles (Psychiater.
Lombrosist).

Die Ruhe glauben Sie? Nein und aber-
mals nein! Genie und Irrsi nn ist’s,

was aus diesen Versen tobt. Ja sogar der
gesellige Goethe fühlte das dämonische
Pochen an den Schläfen, und er stiehlt
sich weg aus dem anregenden glänzen-
den Weimarer Kreise und geht ganz
zwecklos in die Einsamkeit, er flieht
vor sich selbst in die Natur, er weiss
ja nicht, wärum, so dass er selbst
das charakteristische Geständniss ab-
legen muss „und nichts zu suchen ...“
Das Nähere finden Sie in meinem ein-
schlägigen Werke: „Wie grosse Männer
spazieren gingen,“ Abtheilung Neuzeit,
Band 5 ....

Prof. Dr. Herbart (Poetiker).

_Die Verse Goethes sind fehlerhaft. Es

sind zwei unnöthige Vorschlagswörter:
„So“ und „Das“ darin. Und welch ein
Hiatus: „Nichts zu.“ Ein formvollendeter
Dichter, wie Goethe, erlaubt sich so etwas
nicht ohne Noth. Versnoth war’s nicht.
Die zwingenden Gründe werde ich in
den nächsten Stunden darlegen.

Prof. Dr. Schwäbele (Folklorist).

In diesen Versen haben Sie die Hülle
der Poesie: Die göttliche Einfachheit,
die mächtig ans Herz greift. Eigentüm-
lich ist sie sonst nur der Volkspoesie;
sie ist das Nurpoetische — sie, die
Einfachheit.

Privatdocent Dr. Ixist (Moderner).

Nur das schablonenhafte Litteraturpago-

’’ denthum kann sich mit diesen abge-

schmackten Versen noch abgeben. Akade-
mische Hohlschädligkeit kann das Verse
nennen. Wo bleibt die Poesie, meine
Herren? Schreiben Sie es zusammen:
„Ich ging im Walde so für mich hin,
und nichts zu suchen, das war mein
Sinn.“ Keine Spur von Poesie,
alles platteste, abgeschmackteste All-
tagsprosa!

Hofrath Prof. Dr. von Buchenheim
(Literarhistoriker).

Die obigen Verse bieten eine Menge
höchst wichtiger Fragen und Aufgaben
für den Literarhistoriker.

1. Wann ging Goethe spazieren? Jahr,
Jahres- und Tageszeit. Witterung?

2. In welchem Walde ging Goethe spa-
zieren? Laub- oder Nadelwald?

3. Warum ging Goethe spazieren?
Aeusserliche und seelische Motive.

4. Warum ging er allein spazieren?

5. Wie lange blieb er aus?

6. Was war vorgefallen, dass Goethe in
so ruhiger Stimmung war?

7. Machte er das Gedicht während des
Spaziergangs?

8. Im Kopf oder schrieb er es gleich
auf? (Hatte er einen Bleistift bei
sich ?)

9. Oder machte er es danach, aus der
Erinnerung, reconstructiv?

Meine Herren, die Lösung dieser Fragen
wird uns dieses Semester beschäftigen.

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Register
August v. Meißl: Die Centaurendroschke
Anton Renk: Vier Verse
 
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