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18Ö7

Nr. 28

- JUGEND *

und glauben Sie mir, lieber Doktor, der Frack, der
symbolisirt diese Gleichheit 1“

Der ,Incroyable‘ sprach im Tone tiefster Ueber-
zeugung ■—der Befrackte lächelte ironisch und er-
widerte: „Erlauben Sie mir, für einen Augenblick
unser Symbol zu verlassen und für die moderne
,Gleichheit* ein anderes Beispiel aufzustellen! Ver-
gegenwärtigen Sie sich ungefähr: Zwei Individuen
sind von irgend einem Gericht, einem Strafsenat zu
mehrjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt worden;
der Eine davon ist ein nicht mehr junger, aber
vielfach rückfälliger Einbrecher, dem die längere
Pause in seiner Thätigkeit recht willkommen ist.
Der Andere ist ein gebildeter Mensen, der sich aus
humanitären Rücksichten zu einem Meineid verleiten
liess. Er wollte einen Kollegen heraushauen —
Zuchthaus! Um die Beispiele zu vereinfachen:
Beim Einbruch der rauhen Jahreszeit suchen un-
zählige arbeitslose Personen ein Asyl im Gefangniss,
indem sie Spiegelscheiben einwerten oder Majestäts-
beleidigungen ausstossen. Aber der ,Sitzredakteur1
einer Zeitung dritten Ranges wird doch durch eine
sechs wöchentliche Gefängnissstrafe schwer ge troffen.
Mylord von Tourville, der seine Gattin vom Stiltser
Joch in einen Abgrund stiess, um sie zu beerDen,
wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt,
starb aber schon im zweiten Jahre an einem schweren
Magenleiden. Ein Leidensgenosse in der böhmischen
Strafanstalt zu Karthaus hatte seinem Beichtiger
nur den einen irdischen Wunsch anzuvertrauen:
Seine Brüder möchten auch hereinkommen, denn
besser könnte man es nirgend haben! Und das
nennt man Gleichheit vor dem Gesetz?“

So sagte der schriftstellernde Doktor im Frack.
Der ,lucroyable' dachte etwas nach.

„Aber ich bitte Sie — gerade das ist doch die
ideale Gleichheit, die von jedem Stand und Rang ab-
sieht. Wie könnte man Verbrecher Individualismen,
die unter einem Paragraph zu subsumiren sind?“
„Ich gebe es zu,“ entgegnete der Frack, „es ist
eine rühmenswerthe Art von Gleichheit. Josef II.
liess einmal einen jungen Grafen an den Pranger
stellen, als ob er Müller oder Schulze hiesse. Darin
fand der geniale Regent das Ideal der Gleichheit
vor dem Gesetz! Aberder Wiener Pöbel schimpfte
darüber, dass man „einen Junkef“ so behandle. Da-
gegen hat sich seineizeit ganz Berlin gefreut, dass
Freiherr von Kleist-Loss wegen „groben Untuges“
zu einigen Monaten Plötzensee verurtheilt wurde,
ebenso wie ein armer Hausierer verurtheilt wird, weil
er seinen Schein um den Preis von 16 Mark nicht
einlösen konnte und ohne Schein beim Hausieren
betroffen wurde. Denn hausieren gehen musste er.
Also der Begriff der „Gleichheit“ ist seit der Epoche
der „sansculottes“ entschieden herangereift.“

„Und Aehnliches können Sie überall beob-
achten,“ rief der Sansculotte, „besonders in der
Gressstadt feiert die Gleichheit wahre Orgien! Man
wird immer gleicher und gleicher! National-, Volks-
und Standestrachten verschwinden. Das Dienst-
mädchen kleidet sich wie die Herrin, der Kammer-,
diener wie der Herr, der Schustergeselle im Sonn-
tagsstaat ist nur nach genauerer Prüfung von einem
Kommerzienrath zu unterscheiden. Dasselbe Licht,
welches die teppichbelegte Treppe und den Salon
dieses Herrn bescheint, leuchtet auch in den Stras-
sen, Fabriken und Werkstätten: das Glühlicht! Die-
selbe Wasserleitung in den Luxushotels unter den
Linden und am Potsdamerplatz wie in den Arbeiter-
wohnungen der Müllerstrasse! Noch drastischer
zeugen die Verkehrsmittel für die Fortschritte der
Gleichheit, die Berliner Stadtbahn hat leider zwei
Wagenklassen, aber auf der Pferdebahn, die vom
elegantesten Westen, Kurfürstendamm oder Pots-
damerstrasse bis zum Küstriner- und Ankunaplatz,
d. h. bis tief in die Arbeiterviertel hinein führt,
da steht der Offizier neben dem kalkbespritzten
Arbeiter. Nennen Sie das nicht Gleichheit?“
„Aber, verehrter Sansculotte, glauben Sie denn
wirklich, dass der Offizier in Zivil und der kalk-

bespritzte Arbeiter, welche die Gleichheit sonst so
schön symbolisiren, sonst irgend eine Gleichheit
gemeinsam repräsentiren, ausser dass Beide die
Nase mitten im Gesicht haben?“

Der optimistische Sansculotte musste das zu-
geben.

„Aber die Gleichheit ist doch da,“ meinte er.
„Denn man amüsirt sich ganz gleich — da und
dort — beim ,hellen Bier' wie beim „Echten“, in
der Destille wie im Weinrestaurant ersten und
zweiten Ranges. Die Gleichheit besteht darin, dass
in der Grossstadt Jedem die Gelegenheit geboten
wird, seinem Genüsse, gleich viel welchem, zu
leben! Jedoch es gibt auch eine absolute Gleich-
heit. Wir unterstehen einer Polizei, unterstehen
demselben Schutzmann, demselben Steuerzettcl,
derselben Wehrpflicht, derselben Verfassung, genug,
es ist ein ungeheueier Fortschritt zwischen heute
und damals, wo eine unübersteigliche Kluft be-
stand zwischen Herren und Sklaven, eine Kluft, die
kein Gesetz, keine gesellschaftliche Gewohnheit
überbrückte.“

Unerschütterlich entgegnete der Frack: „Der Ge-
gensatz zwischen Herrn und Sklaven, zwischen der
bevorzugten Kaste und derjenigen der Paria’s ist
nur anscheinend der krasseste in der Geschichte
der Menschheit. Zwischen Herrn und Sklaven be-
stand häufig ein menschliches Band. Es gab talent-
volle Sklaven, die nicht nur die Freiheit, sondern
auch eine bevorzugte Lebensstellung erreichten. Der
Paria hatte die Hoffnung auf eine beseligende Wieder-
geburt. Wie schrecklich, wie hoffnungslos dagegen
ist der Abgrund zwischen Kapital und Proletariat!
Der Sklave des Alterthums hatte nicht das Bewusst-
sein, mit seiner Händearbeit das Kapital zu för-
dern, denn die Kapitalisten des Alterthums erhielten
ihren Reichthum aus eroberten Ländern — das Ge-
fühl, die Erkenntnis von der Ungleichheit des
Besitzes, des Anrechtes an Genuss ist eine Er-
rungenschaft unserer Zeit!“

„Aber ich bitte Sie“, entgegnete Sansculotte,
„Sie müssen doch zugeben, dass heutzutage im
Zeitalter der Humanität, der Staatsgrundgesetze —
der Gerichtsbarkeit, der Verkehrsmittel, der kom-
munalen Einrichtungen die Idee der Gleichheit einen
Triumph feiert!“

„Das bestreite ich,“ fiel der Frack ein. „Diese
Gleichheit ist eine rein äusserliche. Vergleichen
wir sie einmal mit der Ungleichheit des Mittelalters.
Ja freilich — die bürgerliche Jungfer durfte sich
nicht kleiden, wie das adelige Fräulein. Aber waren
sie nicht in ihrer Bildung, ihrem Empfinden, ihrer
Lebensanschauung sozusagen gleich? Ja, worin
unterschied sich innerlich der Ritter von dem Rei-
sigen? Sie glaubten an einen Gott und konnten
Beide weder schreiben noch lesen, d. h. inwendig
waren sie einander ganz gleich. Heute aber, wo
Alle gleich gekleidet gehen — welch ein Abgrund
zwischen dem Gebildeten und dem Ungebildeten,
dem Kapitalisten und dem Proletarier, dem genialen
Denker und dem Philister — nein, niemals sind
die Menschen so ungleich gewesen, wie heute ■—■
innerlich so ungleich! Die einzige ideale Gleich-
heit, die sie.damals besassen — den echten Gottes-
glauben — den haben sie verloren und —.“

Der Sansculotte lachte. „Und an seine Stelle
ist der Glaube an das Geld getreten. Ist es nicht
auch eine ideale Gleichheit — ich gebe daneben
zu, dass mit „liberte, fraternite, egalite“ nicht viel
los ist. Aber —,“

Der Befrackte versetzte mit einem leichten Seufzer:
„Sehen wir nach unseren Damen! Die Verpflich-
tung, artig gegen sie zu sein, um sie zu werben
— das ist noch so was von Gleichheit zwischen uns
Männern. Aber für wie lange? Denn die Frauen
wollen ja uns gleich sein — und werden damit
unsere gleichartige Ritterlichkeit zerstören. Wie
schade, dass sie keinen Frack anhaben — wäre
dann doch eine Art von Gleichheit zwischen uns!“

/. R Wille} {Müuc’ci)
Register
Josef Rudolf Witzel: Zierleiste
 
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