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Nr. 29

JUGEND

1897

Sil Ilerrhrrnd Ml c r Knu ö f lt t g c b tion lt et W51 ü rt rh n L rr

Das Äst des Literaturgolics

von Georg Tbirtb

„Al>cr mein lieber Paug-Bu, mit Deinem
Loblied auf den neuesten Stil sagst Du doch
nichts andres, als daß auch Du eigentlich ein
kleiner Reaktionär bist; ein Zukunftsreakiiouär.
Darüber helfen Dir alle Phrasen von Indi-
vidualität, Freiheit und Modernität nicht hin-
aus. Du willst die alten Formen nur zer-
brechen, um an ihre Stelle diejenigen zu setzen,
welche D u gerade für die richtigeren, besseren,
schöneren hältst, — Du und Deine Anhänger.
Denn über die „Form" kommt Ihr doch nicht
hinaus; hier wie dort ist immer etwas Er-
starrung; die von Euch geträumte Beweglich-
keit ist eine Utopie. Ihr könnt das Hemd
wechseln, niemals aber Eure Haut, welche eine
chinesische bleiben wird, so lange der heilige
Aon-fu-tsze (hier machte er einen Anix) mit
Vorliebe in den Schatten unserer Gedanken
wohnt. Ihr Jungen wollt uns Alten nur
zeigen, wo — um mich eines westlichen Sprüch-
wortes zu bedienen — Bartel den Most holt.
Aber auch in unserer Jugend gab es Most,
mein lieber Pang-Bu, jawohl, sehr süßen Most,
und der Bartel, der ihn holte, war nicht von
schlechten Eltern. Auch wir waren damals
voll von Reformgedanken und von Verachtung
für unsere Vorgänger, denen mir doch so viel
verdankten; auch wir hielten uns für die eigent-
lichen und einzigen Lieblinge des großen Litera-
turgottes. Um Dich nicht zu beleidigen, sage
ich's frank und frei von uns Alten- auch wir
waren einmal Literaturgigerln. Ls war
eine schöne Zeit, wo wir uns dem Gotte
so nahe wähnten, wo wir seinen schwellen-

den Gdem nicht^blos in der Lunge, sondern in
allen Gliedern und Liugeweiden verspürten, —
aber cs war doch nur der jugendliche Größen-
wahn, der uns so gottähnlich machte. Auch das
muß sein, cs ist von der Natur so eingerichtet und
wird immer so bleiben. wähnet Luch immer-
hin groß, aber vergesset nicht, daß auch Lucr
Schaffen nur Stückwerk ist und bleiben wird,
und daß — vielleicht schon sehr bald — eine
Zeit kommen wird, wo man von Luch geradeso
geringschätzig redet, wie Ihr jetzt von uns."

Der Mund, der diese banale Weisheit von
sich gab, gehörte einem gemüthlichen alten
Herrn Namens Li-TschingTschang, den wir der
Aürze halber nur Li nennen wollen, d. h. soviel
wie bei uns etwa „Herr Maier". Die Worte
waren an einen jüngere» Mann gerichtet, der
sich, wie wir gehört haben, vang Bu nannte.
Schon aus diesen Namen ersieht der geneigte
Leser, daß es Lhinesen waren. An ihrer Haltung
und ihrem Anzug, an ihren Physiognomien,
welche die Reflexe gebildeter Gedanken wider-
spiegelten, noch mehr aber an ihren durch
chinesische Tusche beschmutzten Fingern und Nä-
geln konnte man erkennen, daß diese Herren
dem großen Pinselwald angehöitcn.

cyu'ti ufiiir|i|uft; ..tv.

also, weiter nichts? GH, das ist und war im
Reiche des Aon fn-tszö, aus dem die Abendländer
einen lateinischen Lonsucius gemacht haben,
immer sehr viel, vorausgesetzt, daß sic die nöthi-
gcn Examina bestände». Venu der Schriftsteller,
der zugleich Philosoph, Geschichtskuudiger. Aefthc-
tiker, Literaturkenner und — Aalligraph sein
muß, kann in Lhina zu den höchsten'Beamten-
würden aussteige», und wen» er gut reiten
kann, sogar General der Aavallerie werden.
Da es aber ei» gewissermaßen geheiligter und
durch die Mühseligkeiten der Examina'gerecht-
fertigter Brauch ist, daß der Maudarin für
seine amtlichen Handlungen, wozu ja auch das
Zudrücken eines Auges gehört, sich zweimal
bezahlen läßt — einmal für den Staat »nd
das audercmal für sein eigenes Portemonnaie
— so kann man ermessen, wie viel verheißungs-
voller die Laufbahn eines chinesischen Jour-
nalisten und Schriftstellers ist, als die eines
europäischen. Aber, wie gesagt, die Lxamina
und die Kalligraphie! Ueber diese beiden
ebenso schwierigen als ehrwürdigen Dinge
würden freilich die Meisten von uns stolpern.

Zöpfe trugen die Beiden noch nicht, woraus -
wir schließen können, daß ihr Spaziergang —
denn sie lustwandelten ganz gemächlich durch
die Reisfelder — zu einer Zeit stattfand, wo
bei uns der dreißigjährige Arieg noch nicht
beendet war. Ls war wirklich an einem
schönen Somincrtagc des Jahresunserer
Zeitrechnung. Der geneigte Leser wird viel-
leicht meinen, das sei ganz gleichgiltig bei
denen Lhinesen, deren Aultur durch die Jahr-
hunderte dasselbe versteinerte Antlitz zu
bewahren scheint. Und doch ist nichts irri-
ger als eine solche. Annahme. Denn in

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Register
Monogrammist Frosch: Allerhand Merkwürdiges von der Münchner internationalen Kunstausstellung
Georg Hirth: Das Fest des Literaturgottes
[nicht signierter Beitrag]: Vignette
 
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