Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1897

JUGEND

Nr. 29

i rt t c rrt ct 11 rr xt vt I c xx xx xx ft cx xx st 11 c X I xx xx r; 1897

Wirklichkeit find auch die Bewohner des himm-
lische» Reichs von endlosen inneren und äußeren
Revolutionen bewegt worden, und gerade um
jene Zeit, wo die abgehärteten Mandschu's
voni Norden her sich zu Herren des Landes
machten, gab es auch unter den chinesischen
Literaten allerlei tiefgehende Bewegungen, für
die mir nur kein rechtes verständuiß haben,
weil uns schon der bloße Anblick ihrer sechs-
tausend monströsen Wortbilder ein geheimes
Gruseln verursacht.

Oie Beiden hatten eben das alljährlich sich
wiederholende Fest des Literaturgottes mitge-
macht. Wie das schön und anmuthvoll klingt,
und wie tiefsinnig cs ist, einen „Literatur-
gott" zu haben, ihn durch Feste zu ehre»
und von ihm beschützt zu werden. Was sind
alle unsere westlichen Jourualistenbälle und
Schrifistcllertage gegen diesen über das weite
himmlische Reich verbreiteten Si-tzi hui, das
heißt: die Gesellschaft des Mitleids
»nt dem geschriebenen Wortei Denn
die Schrift, das gepinselte wie das durch den
Druck vervielfältigte Wort ist (durch die chine-
sische Brille gesehen) einfach ein Geschenk des
Literaturgottes, das die Menschen als ein Heilig-
thuin in Ehren halten sollen. Als eine Beleidig-
ung des Gottes gilt es, diese geheiligten Schrift-
lichen unwürdig verkommen zu lassen und mit
ihnen bedeckte Papiere zum Ginwickeln von
Wurst und Käse oder z» noch profaneren
Zwecken zn mißbrauchen. Da ist in jedem an-
ständigen Hause, an Straßenecken und sonstwo
ein schmuckes Kästlci» angebracht, in welches
die Milliarden von beschriebenen und bedruck-
ten Papicrschuitzeln, die Reste zerfetzter Bücher,
die gebrauchten Schulhefte, die gelesenen Zeit-
ungen, die beweinten Liebesbriefe und die un-

bezahlten Rechnungen pietätvoll versenkt wer-
den, »m am großen Festtage des Gottes dem
einzig würdigen Untergang, dem Fencrtodc, ge-
widmet zu werden. Dann pilgert Alles, was
lesen und schreiben kann, hinaus in's Freie
und weidet sich frommen Sinnes an den Flam-
men, welche — wie poetischI — dem Literatur-
gottc als frommes Gpfer zurückgeben, was sein
göttliches Geschenk bei den dankbaren Menschen
im Uebcrfluß gezeugt hat. Für die Alten und
Gebrechlichen aber, die nicht in's Freie hinaus-
gehcn können, sind in der Stadt besondere Kre-
matorien — „Litcratnröfen" — ausgestellt, wo
ein Jeder seine gesammelten Papierschnitzcl
eigenhändig der gottgefälligen Vernichtung
übergeben kann.

Um es aber gleich aufrichtig zu gestehen:
es ist nicht blos das „Mitleid mit dem ge-
schriebenen Worte", welches den ehrwürdigen
Brauch bei unseren chinesischen Brüdern durch
so viele Jahrhunderte aufrecht erhalten hat.
Denn der Literaturgott ist, wie alle Götter
der Chinese», auch ein sehr rachsüchtiger Herr,
den man fürchten und kascholircn muß —
ein Gelgötze vom reinsten Wasser, wenn ich
so sagen darf. Man denke nur an alle die

grausamen Gualen, denen der gewöhnliche
Sterhliche durch die verschiedensten Proteus-
formen des geschriebenen und gedruckten Wortes
ausgesetzt ist: anonyme und blaue Briefe,
Wohnungskündigungen, Mahnungen an alte
Schulden, niederträchtige Zeitungsartikel, De-
nunziationen aller Artl Und doch sind dies
nur die geringeren Uebel, die uns der erzürnte
Literaturgott zufügen kann; denn wenn er
will, so di'ktirt er uns selbst die größten Schnitzer
und Eseleien in die Feder, läßt uns selber
Artikel schreiben, wegen deren wir dann pro-
zessirt und eingesperrt werden, läßt uns durch
die schriftlichen Examina fallen oder verräth
beim Kadi, daß wir ein unsittliches Buch ver-
kauft haben, worauf uns die Kolportage —
natürlich nur, wenn wir Chinesen sind —
entzogen wird. Auch die meisten Fälle von
Schreibckrampf, der sogenannte Druckfehler-
teufel und die Seuche der verzopften Satzbild-
ungen, welche schon so manchen Reporter
zur Strecke gebracht hat, sind ganz gewöhn-
liche, täglich vorkommende Racheakte des be-
leidigten Gottes. Zn seiner Entschuldigung
muß allerdings bemerkt werden, daß auch der
beste Gott durch die fortwährende Beschäftigung
mit den Bosheiten der Menschen (welche durch
das geschriebene und mehr noch durch das
gedruckte Wort in infinitum gesteigert werden)
nach und nach verdorben werden kann, so
daß er zuletzt eine Art Behagen dabei em-
pfindet, das menschliche Herz aufzuregen und zu
peinigen. So ist allmählich der
ursprünglich so edle, menschen-
freundliche Literaturgott der
Chinesen zu einem höchst un-
sicheren Kantonisten, einer Art
von Zweiseelengott geworden,

495
Register
Monogrammist Frosch: Allerhand Merkwürdiges von der Münchner Kunstausstellung
[nicht signierter Beitrag]: Vignette
 
Annotationen