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Nr. 30

JUGEND

1897

Chr. Wild (München).

Von Sigma-Norm anskh (St. Petersburg)

Sch war in einem glücklichen Lande. Wilde
. Menschen, stark, gesund und licitcr, trieben
aus einer Wiese ihr Wesen In ihren Augen
sah man keinen anderen Ausdruck, als den,
der den Thieren eigen ist. Sie liefen fröhlich
umher und wälzten sich mit ihren Kindern. Sie
schrien irgend cttvas, und die Tonfolge dieses
Schreies erinnerte an das Gebell von Hunden,
die ein Thier verfolgen, an den Gesang des
Vogels und an's iliauschen des Wasserfalles. Sie
waren einfach, schon und natürlich. Wenn sie
mit dem Stein einen Vogel vom Baum hernnter-
schlngen, so sahen sic seine Totzrsznckungen ruhig
an. Wenn sie mit einer scharsen Scherbe ein
erlegtes Reh zerschnitten, glänzten ihre Augen
vor Vergnügen, und der Anblick des warmen
Blutes machte sie lüstern. Und sie waren gesund,
stark und zusricden.

— Es zog ein Gewitter herauf und eine
dunkelrothe Wolke verdeckte den Himmel, — eine
furchtbare Wolke, die stelleinveise anfgcrissen war
und den Ausblick in eine graue, sanftleuchtende
Nebelmasse, in eine andere Welt gewährte. Der
Donner erschallte, und zahllose Blitze begannen
vom Himmel jU' satten. Aber sie schossen nicht
zickzacksörmig herab und gruben sich nicht in die
Erde ein, sondern liehen sich wie Feuerkugeln
nieder und schwebten wie Schmetterlinge umher.
Einer der Wilden, mit Namen Dschiwatman,
schrie plötzlich auf und saute sich nach dem Kops.
Ich trat an ihn heran und fragte, >vas ihm ge-
schehen sei. „Eine Feuerschlange hat sich um
mein Haupt gewunden. Sic bohrt sich in meine
Hirnschale ein. Sie versengt mich." Und brüllend
stürzte er in den Wald.

Ich hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, denn
ich lebte nicht in dem von Wilden bewohnten
Thal. Aber als mein Kops müde wurde zu denken,
ging ich wieder in den grossen lirtvald, der das
Thal der Wilden von der übrigen Menschheit
scheidet.

Im Walde begegnete ich einem Wesen, tvclches
an mich hcrantrat.' Es war ein eigenthiimlicher
Mensch, den ich nicht erkannte. Der riesige Leib
war verdorrt und ohne Muskeln. Auf den ein-
gebvgenen Schultern sah ein kolossaler haarloser
Kopf, mit einer breiten, gewölbten Stirn. Das
Gesicht war von Runzeln durchfurcht. Die grohcn
Augen blickten Volt unsäglichen Elends.

„Das bin ich, Dschiwatman," sagte er mir
mit hohler Stimme. „Hast Du mich nicht er-
kannt, Ardschuna? Ich habe mich verändert. Ich
gleiche nicht.mehr meinen Brüdern, die sich dort
im Thale ergötzen. Die Freude hat mich ver-
lassen, denn ich sehe das Gerippe der Welt, ent-
blöht von den buntfarbigen Hüllen, die es um-
geben."

„Was ist Dir geschehen?" fragte ich ihn.
„Bist Du krank?"

„Ja, ich bin krank. Erinnerst Du Dich jenes
furchtbaren Gewitters, als Du das letzte Mal
bei uns warst, um Dich bei uns zu erholen?
Damals kam vom Himmel eine geflügelte, feurige
Schlange herab und drang mir in's Haupt unter
dieSchädeldeckc ein. Jcki suchte sie heraüsznreihen,
aber ich konnte es nicht: sie verbarg sich in meinem
Hirn. Ich schlug mit dem Haupte an die Erde,
aber die Schlange blieb drin. Vor Schmerz lies
ich in den Wald und sank dort um und verfiel
in einen tiefen Sckilaf. Seit der Zeit hat mich
die Fenerschlange Puruscha gekncckitct. Sic hat
bis in die Tiefen mein Hirn zerwühlt. Sic hat
meine Muskeln mit dem Netz ihrer seinen Fühl-
hörner umsponnen, wie eine Spinne die Fliege
umspinnt. Sie sangt aus meinem Körper alle
Säfte. Sie hat ihn schwach und zitternd ge-
macht, empfindlich gegen Schmerz und Kälte.
Sie hat mir alle Freude geraubt. Das Laufen
und Schreien und Jagen hat sie mir verleidet.
Ich kann kein Thier, keinen Vogel mehr tbd-
ten, kann kein Blut mehr sehen, kein Todes-
röcheln hören. Ich empfinde alles, was an-
dere empfinden, als hätte mich Puruscha auch
an sie mit unsichtbaren Fäden gebunden. Ich
war ruhig wie diese Eiche. Und jetzt tönen tu
mir die Leiden der ganzen Welt wider, die
Wellen des Elends stürmen gegen mich an und
beugen mich >vic ein Rohr. Ich kann nicht mehr
einfach leben. Ich möchte mich vergessen, Pu-
ruscha aber weckt mich und spricht: ,Von wannen
kommst Du und wohin gehst Du? Ist es der
Mühe werth, das; Du lebst?' Ich möchte sutze
Beeren essen und mich im Grase nusrnhe», er
aber spricht zu mir: .Schon kannst Du nicht
mehr laufen wie Deine Brüder. Siehe, es wird
kommen die Zeit, wo ich aus Dir alle Lebens-
säfte nehmen werde, um mit ihnen auf euren an-
deren Deiner Brüder hinüberznfliegen, Du aber
ivirst leblos verwesen, wie dieser Baumstumpf
verfault.' O Ardschuna, befreie mich aus der
Sklaverei des Puruscha! Was soll ich thun, um
ihn mit alt' seinen feinen Wurzeln, die meine
Kräfte anssangen, ans mir herauszureitzen? Er
ist nicht von uns, er ist aus einer anderen Welt,
und er zieht mich hinter sich her in jene andere
Welt, und schlicht meine Augen für die Freuden
dieses Lebens, tvelche mich früher ergötzt halten.
Wozu ist er von da herabgeflogcn und wozu
hat er mich geknechtet?! Siehe, cs leben die
Bäume, die Thierc und meine Brüder rn jenem
Thal. Sie sind glücklich, denn sie denken nicht
an das. Verborgene rmd denken nicht an das
Unsichtbare. Sie sind stark, denn ihre Sehnen
sind nicht mit dem Gewebe, welches den Schmerz
leitet, umsponnen. Kann ich mich denn wirklich
nicht vor Puruscha retten, ehe er meine ganze
Kraft verzehrt?''

„Nein/' antivortete ich ihm, „Derjenige, auf
den sich Puruscha aus der anderen Welt rrieder-

gclassen bah kann sich von ihn, bis zum Tode
nicht befreien, und kann die Lebcnsfrendigkeit
nie wieder gewinnen. Ewig nrns; er leiden. 'Wie
häufig beruhte Deine Freude auf dem Leiden
des Thieres? Erinnere Dicb, wie Du es liebtest,
ans dem wilden Rosse die Wiese entlang zu spren-
gen, und wie das Ros; unter Dir vor Entkräftung
znsammeiibrach. Dein Vergnügen bereitete dem
Thiere Schmerz und Leiden. Das Vergnügen
des Puruscha beruht tim Deinen Leiden. Weil
er von einer anderen Welt ist.. ."

Dschiwatman verlies; mich und ging, sein
ungeheures Haupt schüttelnd, in das finstere
Dickicht des Waldes. Und ich habe ihn nie mehr
gefehen. (Deutsch von Wladimir Czumtkowi.

Ulutterherz, du bist die Quelle,

Die iu.ineinen Adern springt
Und mit aufgeregter Welle
Freuden viel und Leiden bringt,
Ueberschäumend je und je,
Unversiegbar, unergrüudet,

Bis der Strom des Herzens mündet
In des Todes stille See.

Batcrgeist, du bist der Funken,

Der phaiitastisch iu mir sprüht,

Daß der Sinn mir feucrtrunken
Aufwallt und die Seele glüht-;

Daß durch alle Himmel hin
Des Gedankens Blitze fahren,
Suchend nach dem Unsichtbaren,

Bis ich Staub und Asche biu.

ALBERT MATTHA.EI.

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Register
Sigma-Normansky: Phantasie
Albert Matthäi: Mein Erbtheil
Christian Wild: Zierleiste
[nicht signierter Beitrag]: Vignette
 
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