Nr. 31
1897
JUGEND
Der IMtm bei? Jorge
von Delena llyblom.
«Uie Sorge weilte am äußersten wcltcnmecr, das
Kinn in die Hand gestutzt, und sah mit ihren
müden Augen hinaus über die wellcnlose Fläche.
In diesem Meere rührte sich Nichts. Jede Be-
wegung sank wie versteinert vor den leblosen Blicken
der Sorge hin. Alles rings umher mar todcsstill, und
die einzigen lebenden Wesen, die sich zeigten, waren
die großen, weißen Vögel der Sorge, die auf Steinen
an dem regungslosen Meere saßen und hinaus in die
milchweiße Lust starrten. Zuweilen erhob die Sorge
ihre Hand; — die rechte — die linke, und dann flog
einer der großen Vögel mit lautlosen Flügelschlägen
hart über das Meer, um eine jener Kunden zu bringen,
vor denen Alle zurückbebe». Jetzt saß die Sorge un-
beweglich da und blickte über das Meer, auf dem die
letzten Sonnenstrahlen erloschen.
Plötzlich erhob sic ihr Haupt und lauschte, Weit,
weit weg, als käme es von den Sonnenstrahlen, die
am Horizonte nntertanchle», tönte ein wunderlicher
Laut. Ls klang, wie wenn zwei dünne Silberplatten
zitternd aneinander klingen.
„Was ist dies?" fragte die Sorge, „von wo
kommt dieser Klang?"
„Ls ist Lymbalschlag, der vom Vlymp tönt, wo
die Rückkehr der Freude gefeiert wird," antworteten
die Geister der Luft.
„War die Freude je vom Mlymp entfernt?" fragte
die Sorge.
„Linen Tag," antworteten die Geister der Luft.
„Linen Tag war die Freude fort, um die Lrdc zu
besuchen."
„Und die Kinder der Lrde, thaten sie nicht Alles,
um die Freude mit Gewalt znrückzuhalten?" fragte
die Sorge.
„Die Menschen warfen mit Steinen nach der Freu-
de," antworteten die Geister der Luft.
Da lächelte die Sorge in ihrer eigenen freudlosen
Weise, und wieder stützte sic den Arm auf das Knie,
und das Kinn in die Hand und sah hinaus über das
wellenlose Meer, in das die Sonne versunken war. Aber
indcß sic so nachts unter dem sternenlosen Himmel
weilte, sann sic neue »nd wunderliche Gedanken.
„Die Menschen haben mit Steinen nach der Freude
geworfen," dachte sie, „vielleicht werden sic die Sorge
besser aufnehmen. Wer weiß? vielleicht würden sie
mich lieben! Ltwas müssen die Menschen doch lieben?"
Wohl hatte die Sorge oftmals ihre großen ftnuimen
Vögel den Menschen zum Gruß gesandt, und wo sie
dahingeschwebt oder herabgestiegen, da hatte Angst
und Schrecken sich verbreitet, aber selbst hatte die Sorge
den Fuß noch nicht auf die Lrde gesetzt. Anderen
Sterne» und Planeten hatte sie sich genähert, aber
sobald sie es wagte, eine Welt zu betreten, auf der
Wesen lebten, hatten sich Alle und Alles vereinigt,
um sie z» vertreiben. Nun kam es ihr in den Sinn,
zu versuchen, ob auf der Lrde nicht für sie Raum
sein sollte.
Sie wollte so gerne geliebt werde». Sie saß so
hosfnungslos einsam am äußersten Weltenmeere.
Und als cs Morgen wurde, erhob sie ihre langen,
schwarzen Schwingen, breitete sie ans, wie zwei
Gewitterwolken, und schwebte lautlos über den
Meeresspiegel, wie ein riesengroßer Nachtschmettcr-
Ung. Als sie das Lrdenrund sich über die Mceres-
A
H. Bergmeistcr (Salzburg).
fläche erheben sah, verlangsamte sie ihren Flug. Ls
war, als fühlte sie plötzlich eine Angst, die sie hemmte.
Alle die WindeFdie'.vom Lande wehten, zischten
ihr entgegen, als spürten sie schon den Hauch ihrer
Flügelschläge.
„Ich will warten," dachte sie, „ich will cs erst
mit meinem Schatten versuchen!"
Und so erhob sie sich in ihrer ganzen Länge
hinauf über den Himmel, spannte die Flügel zu ihrer
vollen weite ans und schwebte wie ein Weih in den
Lüften. Da warf die Sorge ihren Schatten weit hinaus
über das Meer, weit hinauf zum Himmel und über
die ganze, blühende Lrde.
Der Schatten der Sorge war nicht schwarz. Lr
hatte alle möglichen, dunklen, wunderbaren Farben;
violetblan und dunkelgrün; eine drohende purpnr-
rothe Glut brannte unter den Brauen, stellenweise
war der Schatten mild und blau, und Alles, worauf
er fiel, veränderte er.
Das fchinimernde blaue Meer wurde violett, und
unerwartete, unsichtbare Geheimnisse, die auf seinem
Grunde ruhten, kamen wie dunkle Farbenflcckcn unter
dem Schatten der Sorge hervor. Die lichtgrünen Felder
wurden blau, die dunkelgrünen Waldcsticfen flamm-
ten in Purpur. Alles war so reich und seltsam.
„Was ist Das?" fragten die Menschen einander
und sahen sich an. „Was ist dies Geheimnißvolle,
Dunkle, Bethörende, das wir früher nie bemerkt
haben?" Und die Menschen begannen, den Schatten
der Sorge zu lieben.
Ls breitete sich eine wunderliche, schwüle Luft über
der Lrde aus, so daß Keiner recht athmen konnte, und
die Menschen sagten, jetzt erst sei cs schön, zu leben.
Früher hatten sie so gedankenlos die' Lungen mit
Luft gefüllt, jetzt that jeder Athemzng weh, und sie
mußten sich an's Herz greifen und an den Schmerz
denken, den sie fühlten. Der Sonnenschein hatte früher
den Sinn der Menschen erfreut, aber der Sonnenschein
fiel ganz in Ungnade, jetzt, da der Schatten der Sorge
sich gezeigt. Die Sonne, die mochte gut sein für Kinder
und Bauern, solche, die nur spielen oder arbeiten, aber
für Menschen, die dachten, war die Sonne gar zu
wohlbekannt. Nein, der Schatten der Sorge, den
lohnte cs, anznsehen uiid darüber zu grübeln. Und
Alle die, die von ihren Gedanken sprechen konnten,
in Worten öder Tönen oder Farben, begannen den
Schatten der Sorge zu preise». Die Lieder klangen
so sehnsuchtsvoll und klagend, daß sie dumpfe, ängst-
liche Gefühle erweckten und die Herzen der Menschen
in tiefem Schmerz erziltcrn ließen.
Niemand wollte Ltwas, das von Freude sprach,
hören oder sehen. Die Freude war ja von der Lrde
entflohen. Alle wollten nur in jene» dunklen Ge-
wässern untertaucheii, die kalte Schauer und Todcs-
ahliungcu gaben. Und die Sorge hörte mit Wohl-
behagcn alle die Lobcsopfer, die man ihrem Schatten
brachte, und sic breitete die Flügel aus und ließ sic
die Sonne verhüllen.
Und die Menschen erfüllten ihre Herzen mit Trauer-
gesängcn, sie fanden eine wunderliche, unbekailntc
Freude darin, die Thränen warm über ihre Wangen
rieseln zu fühlen, wenn sie nur den Schatten der
Sorge nannten. Ihr Heim erschien ihnen leer und
kalt, ihre Arbeit freudlos, sie dachten blos an Lines,
sie sehnten sich blos nach Linem, sich tiefer und
tiefer in den Schatten der Sorge schmiegen zu
kölincn. Die Söhne sprachen zu ihrem Vater: „wir
Oniforranch
1897
JUGEND
Der IMtm bei? Jorge
von Delena llyblom.
«Uie Sorge weilte am äußersten wcltcnmecr, das
Kinn in die Hand gestutzt, und sah mit ihren
müden Augen hinaus über die wellcnlose Fläche.
In diesem Meere rührte sich Nichts. Jede Be-
wegung sank wie versteinert vor den leblosen Blicken
der Sorge hin. Alles rings umher mar todcsstill, und
die einzigen lebenden Wesen, die sich zeigten, waren
die großen, weißen Vögel der Sorge, die auf Steinen
an dem regungslosen Meere saßen und hinaus in die
milchweiße Lust starrten. Zuweilen erhob die Sorge
ihre Hand; — die rechte — die linke, und dann flog
einer der großen Vögel mit lautlosen Flügelschlägen
hart über das Meer, um eine jener Kunden zu bringen,
vor denen Alle zurückbebe». Jetzt saß die Sorge un-
beweglich da und blickte über das Meer, auf dem die
letzten Sonnenstrahlen erloschen.
Plötzlich erhob sic ihr Haupt und lauschte, Weit,
weit weg, als käme es von den Sonnenstrahlen, die
am Horizonte nntertanchle», tönte ein wunderlicher
Laut. Ls klang, wie wenn zwei dünne Silberplatten
zitternd aneinander klingen.
„Was ist dies?" fragte die Sorge, „von wo
kommt dieser Klang?"
„Ls ist Lymbalschlag, der vom Vlymp tönt, wo
die Rückkehr der Freude gefeiert wird," antworteten
die Geister der Luft.
„War die Freude je vom Mlymp entfernt?" fragte
die Sorge.
„Linen Tag," antworteten die Geister der Luft.
„Linen Tag war die Freude fort, um die Lrdc zu
besuchen."
„Und die Kinder der Lrde, thaten sie nicht Alles,
um die Freude mit Gewalt znrückzuhalten?" fragte
die Sorge.
„Die Menschen warfen mit Steinen nach der Freu-
de," antworteten die Geister der Luft.
Da lächelte die Sorge in ihrer eigenen freudlosen
Weise, und wieder stützte sic den Arm auf das Knie,
und das Kinn in die Hand und sah hinaus über das
wellenlose Meer, in das die Sonne versunken war. Aber
indcß sic so nachts unter dem sternenlosen Himmel
weilte, sann sic neue »nd wunderliche Gedanken.
„Die Menschen haben mit Steinen nach der Freude
geworfen," dachte sie, „vielleicht werden sic die Sorge
besser aufnehmen. Wer weiß? vielleicht würden sie
mich lieben! Ltwas müssen die Menschen doch lieben?"
Wohl hatte die Sorge oftmals ihre großen ftnuimen
Vögel den Menschen zum Gruß gesandt, und wo sie
dahingeschwebt oder herabgestiegen, da hatte Angst
und Schrecken sich verbreitet, aber selbst hatte die Sorge
den Fuß noch nicht auf die Lrde gesetzt. Anderen
Sterne» und Planeten hatte sie sich genähert, aber
sobald sie es wagte, eine Welt zu betreten, auf der
Wesen lebten, hatten sich Alle und Alles vereinigt,
um sie z» vertreiben. Nun kam es ihr in den Sinn,
zu versuchen, ob auf der Lrde nicht für sie Raum
sein sollte.
Sie wollte so gerne geliebt werde». Sie saß so
hosfnungslos einsam am äußersten Weltenmeere.
Und als cs Morgen wurde, erhob sie ihre langen,
schwarzen Schwingen, breitete sie ans, wie zwei
Gewitterwolken, und schwebte lautlos über den
Meeresspiegel, wie ein riesengroßer Nachtschmettcr-
Ung. Als sie das Lrdenrund sich über die Mceres-
A
H. Bergmeistcr (Salzburg).
fläche erheben sah, verlangsamte sie ihren Flug. Ls
war, als fühlte sie plötzlich eine Angst, die sie hemmte.
Alle die WindeFdie'.vom Lande wehten, zischten
ihr entgegen, als spürten sie schon den Hauch ihrer
Flügelschläge.
„Ich will warten," dachte sie, „ich will cs erst
mit meinem Schatten versuchen!"
Und so erhob sie sich in ihrer ganzen Länge
hinauf über den Himmel, spannte die Flügel zu ihrer
vollen weite ans und schwebte wie ein Weih in den
Lüften. Da warf die Sorge ihren Schatten weit hinaus
über das Meer, weit hinauf zum Himmel und über
die ganze, blühende Lrde.
Der Schatten der Sorge war nicht schwarz. Lr
hatte alle möglichen, dunklen, wunderbaren Farben;
violetblan und dunkelgrün; eine drohende purpnr-
rothe Glut brannte unter den Brauen, stellenweise
war der Schatten mild und blau, und Alles, worauf
er fiel, veränderte er.
Das fchinimernde blaue Meer wurde violett, und
unerwartete, unsichtbare Geheimnisse, die auf seinem
Grunde ruhten, kamen wie dunkle Farbenflcckcn unter
dem Schatten der Sorge hervor. Die lichtgrünen Felder
wurden blau, die dunkelgrünen Waldcsticfen flamm-
ten in Purpur. Alles war so reich und seltsam.
„Was ist Das?" fragten die Menschen einander
und sahen sich an. „Was ist dies Geheimnißvolle,
Dunkle, Bethörende, das wir früher nie bemerkt
haben?" Und die Menschen begannen, den Schatten
der Sorge zu lieben.
Ls breitete sich eine wunderliche, schwüle Luft über
der Lrde aus, so daß Keiner recht athmen konnte, und
die Menschen sagten, jetzt erst sei cs schön, zu leben.
Früher hatten sie so gedankenlos die' Lungen mit
Luft gefüllt, jetzt that jeder Athemzng weh, und sie
mußten sich an's Herz greifen und an den Schmerz
denken, den sie fühlten. Der Sonnenschein hatte früher
den Sinn der Menschen erfreut, aber der Sonnenschein
fiel ganz in Ungnade, jetzt, da der Schatten der Sorge
sich gezeigt. Die Sonne, die mochte gut sein für Kinder
und Bauern, solche, die nur spielen oder arbeiten, aber
für Menschen, die dachten, war die Sonne gar zu
wohlbekannt. Nein, der Schatten der Sorge, den
lohnte cs, anznsehen uiid darüber zu grübeln. Und
Alle die, die von ihren Gedanken sprechen konnten,
in Worten öder Tönen oder Farben, begannen den
Schatten der Sorge zu preise». Die Lieder klangen
so sehnsuchtsvoll und klagend, daß sie dumpfe, ängst-
liche Gefühle erweckten und die Herzen der Menschen
in tiefem Schmerz erziltcrn ließen.
Niemand wollte Ltwas, das von Freude sprach,
hören oder sehen. Die Freude war ja von der Lrde
entflohen. Alle wollten nur in jene» dunklen Ge-
wässern untertaucheii, die kalte Schauer und Todcs-
ahliungcu gaben. Und die Sorge hörte mit Wohl-
behagcn alle die Lobcsopfer, die man ihrem Schatten
brachte, und sic breitete die Flügel aus und ließ sic
die Sonne verhüllen.
Und die Menschen erfüllten ihre Herzen mit Trauer-
gesängcn, sie fanden eine wunderliche, unbekailntc
Freude darin, die Thränen warm über ihre Wangen
rieseln zu fühlen, wenn sie nur den Schatten der
Sorge nannten. Ihr Heim erschien ihnen leer und
kalt, ihre Arbeit freudlos, sie dachten blos an Lines,
sie sehnten sich blos nach Linem, sich tiefer und
tiefer in den Schatten der Sorge schmiegen zu
kölincn. Die Söhne sprachen zu ihrem Vater: „wir
Oniforranch