1897
Nr. 34
Marterwerkzeug gegen meine Muskeln, die mich
über tausend Felsentrümmer wie in einer Sauste
tragen und die jeden Morgen, neu gestärkt, dem
Geist des Lebens eine jubelnde Andacht tanzen.
Wer also über das Reisen zu Wagen authenti-
sche Mittheilungen wünscht, den muh ich an mei-
nen Bekannten und an den Herrn von der Taille
d’hftte verweisen.
Soll man planlos oder nach einem vor der
Reise entworfenen Plane reisen? Ich bin ganz
entschieden für einen detaillirten Reiseplan; nur
darf man sich nicht nach ihm richte».
Zuerst und vor allein bin ich für Aus-
arbeitung eines sorgfältigen Rciscplanes, weil
man dabei schon alle Seligkeiten der Reise in
zartester Zubereitung durchkostet. Der Vor-
geschmack ist ja an den meisten Dingen dieser
Welt das Schönste. Welche Genüsse schlummern
schon in solch einem „Hendschel'schen Telegraphen!"
lind dann erst in solch einem „Bädxkcr" oder
„Meyer!" Man notirt sich jeden „prachtvollen
Spaziergang," jeden „Turm mit herrlicher Fern-
sicht," jedes Hotel „mit vorzüglicher Kiiche," jedes
Museum mit Gemälden und Skulpturen von
den denkbar größten Meistern, jede Schlucht,
jede Klippe und jeden Wasserfall. (Es kommt
ja nachher immer anders, wenigstens bei mir;
aber was schadet das? Man hat erst einmal
all diese Köstlichkeiten weg!) Und dann die Zu-
sainmenstcllnng der Reiseutensilien — Himmel,
dieses Entzücken! Mit welcher Wollust packt
man die Hausschuhe ein, in denen man nach
acht- oder zehnstündiger Wanderung am-Abend
schwelgen will! Welcher Jubel, wenn man den
geeignetsten Reisecognac endlich gefunden hat!
Mit welcher stillen Freude wählt man die ganz
wenigen Bändchen Reiselektüre, und mit welcher
liebevollen Sorgfalt schätzt man das nöthigc
Llnantum heimathlicher Cigarren ab, damit man
niemals in die Versuchung komme, sich in einem
. JUGEND °
leichtfertigen Augenblick fern von liebenden Ver-
wandten und Freunden einer unberechenbar länd-
lichen oder kleinstädtischen Cigarre auszuliefern.
Ich bin aber noch aus einem persönlichen
Grunde für einen Plan. Als Junge und Jüng-
ling kam ich nicht über meinen Hcimathsort
hinaus, und da ich unausgesetzt, während ich
durch die Straßen lief, mit einwärts gekehrtem
Blick die zahlreichen und glanzvollen Ideale
meiner Kindersehnsucht zu betrachten pflegte, so
cntivickclte sich in mir nach und nach der misera-
belste Ortssinn, den Europa aufzuweisen hat, ja,
cs entwickelte sich sozusagen in mir ein sicherer
Instinkt zum Verlaufen und Verirren. Wie oft
schon Hab' ich, an einer Wcgscheide stehend, mir
gesagt: „Dieser Weg hier (sagen lvir links) ist
jedenfalls der richtige." Dann sagte mir eine
innere Stimme: „Du fühlst Dich zu sicher! Du
kennst Dich doch! Dein böser Lokaldämon tvill
Dich täuschen! Geh' den andern Weg!" Dann
ging ich den andern Weg, und dann ivar's auch
richtig der verkehrte. Ich bin machtlos gegen
diese Bosheit; ich habe den Kampf gegen sic
nachgerade anfgcgebcn, und das um so mehr,
als ich mich auf Irrwegen in der Regel wunder-
bar ergötzt habe. Nur weint ich mich von meiner
Gutherzigkeit dazu Hinreißen lasse, als -Führer
zu fungircn: Dann ivird jener Instinkt mir
unangenehm. Als Reiseführer habe ich stets
den schnödesten Undank zu kosten bekommen.
Nicht genug aber, daß mein perfider Orts-
sinn mich regelmäßig irrcführt, sobald ich nicht
streng nach der Karte wandere: er führt mich
auch mit Vorliebe einundeinhalb Minuten Weges
an den „HnnplsehcnSwnrdigkeiten"vorbei. Z. B.:
eine Aussicht fesselt mich so, daß ich lange davor
stehen bleibe und alles andere vergesse oder auch
an tausend ferne Dinge denke und dann eine
halbe Stunde lang im Traume weitergehe.
Wenn ich dann einmal meine Karte hervorziehe,
entdecke ich, daß ich hart an der eigentlichen
Haupt- und Monstrc-Aussicht vorbeispaziert bin.
Dann muß ich entweder nmkchren — wenn die
Aussicht so berühmt ist lvie der Papst in Rom,
den man ja gesehen haben muß — oder sch
tröste mich — >vas mir sehr leicht tvird — da-
mit, daß die nnbcrühmte Aussicht, die ich ge-
sehen, doch auch ganz herrlich war tind daß die
nnbcrühmtcn Schönheiten gewöhnlich eigen-
artiger, frischer und schöner sind als die be-
rühmten und stark freqnentirten Schönheiten.
Am Abend dient mir dann mein detaillierter
Reiseplan dazu, festzustellen, lvie oft und inwie-
fern ich von ihm abgewichen bin. Welchen Weg
ich gehen tverde, kann ich unmöglich immer tvissen;
aber welchen Weg ich gegangen bin, das mag
ich gern erinnernd und bewußt überblicken.
Also: man mache sich einen Plan; aber man
weise keinen Gedanken mit heftigerer Entschieden-
heit zurück als den, daß man sich von ihm solle
tyrannisieren lassen.
Ich reise mit Vorliebe zu zweien, mit einem
guten, sehr guten Freunde oder einer noch besseren
Freundin. Rur müssen sie unterwegs mit wenigen
Worten auskommen und allein zu genießen vcr-
vcrstehen. Die Meuschcnseelc ist keusch und steigt
nur, wenn sie allein ist, ganz entkleidet ins Bad
der Stimmung. Ich für mein armes Theil kann
aber nicht schwimmen, und wenn ich mich zu weit
vorwage, geh ich unter. Dann ist mir ein Freund
willkommen, der mich hcrauszieht.
Und dann des Abends aus der Fülle des
Tages plaudern, beim Glas und bei der Zigarre,
mit einem Freund, mit einer holden Freundin.
Ach, ist das schön! Das ist das nötige Stück
Heimat und Ruhe in der Ferne.
Und halt — noch eins! Ja, das ist auch köst-
lich: einem lieben Menschen die Stätten zeigen,
die man selbst schon gesehen, wo man schon ein-
mal im Schauen selig war! Da trinkt man die
Das Wappen des Stammgastes
Julius Diez (München).
573
Nr. 34
Marterwerkzeug gegen meine Muskeln, die mich
über tausend Felsentrümmer wie in einer Sauste
tragen und die jeden Morgen, neu gestärkt, dem
Geist des Lebens eine jubelnde Andacht tanzen.
Wer also über das Reisen zu Wagen authenti-
sche Mittheilungen wünscht, den muh ich an mei-
nen Bekannten und an den Herrn von der Taille
d’hftte verweisen.
Soll man planlos oder nach einem vor der
Reise entworfenen Plane reisen? Ich bin ganz
entschieden für einen detaillirten Reiseplan; nur
darf man sich nicht nach ihm richte».
Zuerst und vor allein bin ich für Aus-
arbeitung eines sorgfältigen Rciscplanes, weil
man dabei schon alle Seligkeiten der Reise in
zartester Zubereitung durchkostet. Der Vor-
geschmack ist ja an den meisten Dingen dieser
Welt das Schönste. Welche Genüsse schlummern
schon in solch einem „Hendschel'schen Telegraphen!"
lind dann erst in solch einem „Bädxkcr" oder
„Meyer!" Man notirt sich jeden „prachtvollen
Spaziergang," jeden „Turm mit herrlicher Fern-
sicht," jedes Hotel „mit vorzüglicher Kiiche," jedes
Museum mit Gemälden und Skulpturen von
den denkbar größten Meistern, jede Schlucht,
jede Klippe und jeden Wasserfall. (Es kommt
ja nachher immer anders, wenigstens bei mir;
aber was schadet das? Man hat erst einmal
all diese Köstlichkeiten weg!) Und dann die Zu-
sainmenstcllnng der Reiseutensilien — Himmel,
dieses Entzücken! Mit welcher Wollust packt
man die Hausschuhe ein, in denen man nach
acht- oder zehnstündiger Wanderung am-Abend
schwelgen will! Welcher Jubel, wenn man den
geeignetsten Reisecognac endlich gefunden hat!
Mit welcher stillen Freude wählt man die ganz
wenigen Bändchen Reiselektüre, und mit welcher
liebevollen Sorgfalt schätzt man das nöthigc
Llnantum heimathlicher Cigarren ab, damit man
niemals in die Versuchung komme, sich in einem
. JUGEND °
leichtfertigen Augenblick fern von liebenden Ver-
wandten und Freunden einer unberechenbar länd-
lichen oder kleinstädtischen Cigarre auszuliefern.
Ich bin aber noch aus einem persönlichen
Grunde für einen Plan. Als Junge und Jüng-
ling kam ich nicht über meinen Hcimathsort
hinaus, und da ich unausgesetzt, während ich
durch die Straßen lief, mit einwärts gekehrtem
Blick die zahlreichen und glanzvollen Ideale
meiner Kindersehnsucht zu betrachten pflegte, so
cntivickclte sich in mir nach und nach der misera-
belste Ortssinn, den Europa aufzuweisen hat, ja,
cs entwickelte sich sozusagen in mir ein sicherer
Instinkt zum Verlaufen und Verirren. Wie oft
schon Hab' ich, an einer Wcgscheide stehend, mir
gesagt: „Dieser Weg hier (sagen lvir links) ist
jedenfalls der richtige." Dann sagte mir eine
innere Stimme: „Du fühlst Dich zu sicher! Du
kennst Dich doch! Dein böser Lokaldämon tvill
Dich täuschen! Geh' den andern Weg!" Dann
ging ich den andern Weg, und dann ivar's auch
richtig der verkehrte. Ich bin machtlos gegen
diese Bosheit; ich habe den Kampf gegen sic
nachgerade anfgcgebcn, und das um so mehr,
als ich mich auf Irrwegen in der Regel wunder-
bar ergötzt habe. Nur weint ich mich von meiner
Gutherzigkeit dazu Hinreißen lasse, als -Führer
zu fungircn: Dann ivird jener Instinkt mir
unangenehm. Als Reiseführer habe ich stets
den schnödesten Undank zu kosten bekommen.
Nicht genug aber, daß mein perfider Orts-
sinn mich regelmäßig irrcführt, sobald ich nicht
streng nach der Karte wandere: er führt mich
auch mit Vorliebe einundeinhalb Minuten Weges
an den „HnnplsehcnSwnrdigkeiten"vorbei. Z. B.:
eine Aussicht fesselt mich so, daß ich lange davor
stehen bleibe und alles andere vergesse oder auch
an tausend ferne Dinge denke und dann eine
halbe Stunde lang im Traume weitergehe.
Wenn ich dann einmal meine Karte hervorziehe,
entdecke ich, daß ich hart an der eigentlichen
Haupt- und Monstrc-Aussicht vorbeispaziert bin.
Dann muß ich entweder nmkchren — wenn die
Aussicht so berühmt ist lvie der Papst in Rom,
den man ja gesehen haben muß — oder sch
tröste mich — >vas mir sehr leicht tvird — da-
mit, daß die nnbcrühmte Aussicht, die ich ge-
sehen, doch auch ganz herrlich war tind daß die
nnbcrühmtcn Schönheiten gewöhnlich eigen-
artiger, frischer und schöner sind als die be-
rühmten und stark freqnentirten Schönheiten.
Am Abend dient mir dann mein detaillierter
Reiseplan dazu, festzustellen, lvie oft und inwie-
fern ich von ihm abgewichen bin. Welchen Weg
ich gehen tverde, kann ich unmöglich immer tvissen;
aber welchen Weg ich gegangen bin, das mag
ich gern erinnernd und bewußt überblicken.
Also: man mache sich einen Plan; aber man
weise keinen Gedanken mit heftigerer Entschieden-
heit zurück als den, daß man sich von ihm solle
tyrannisieren lassen.
Ich reise mit Vorliebe zu zweien, mit einem
guten, sehr guten Freunde oder einer noch besseren
Freundin. Rur müssen sie unterwegs mit wenigen
Worten auskommen und allein zu genießen vcr-
vcrstehen. Die Meuschcnseelc ist keusch und steigt
nur, wenn sie allein ist, ganz entkleidet ins Bad
der Stimmung. Ich für mein armes Theil kann
aber nicht schwimmen, und wenn ich mich zu weit
vorwage, geh ich unter. Dann ist mir ein Freund
willkommen, der mich hcrauszieht.
Und dann des Abends aus der Fülle des
Tages plaudern, beim Glas und bei der Zigarre,
mit einem Freund, mit einer holden Freundin.
Ach, ist das schön! Das ist das nötige Stück
Heimat und Ruhe in der Ferne.
Und halt — noch eins! Ja, das ist auch köst-
lich: einem lieben Menschen die Stätten zeigen,
die man selbst schon gesehen, wo man schon ein-
mal im Schauen selig war! Da trinkt man die
Das Wappen des Stammgastes
Julius Diez (München).
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