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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 2.1897, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 36 (4. September)
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Nr. 36

1897

Toogoolor schickte sich eben an, sich im Schatten
auf ein paar Grasbüschel auszustrecken, als ein
Wärter ihn durch Zeichen nusforderte, nächst der
dichte» Zuschauerreihe um seine Hütte herumzu-
gehen.

Des Eskimos Auftreten brachte beträchtliche
Einnahmen.

Da gab es arme und reiche Familien, eng-
lische Mädchcnpcnsionate, Soldaten mit weihen
Zwirnhandschuhen, Schiller von Sainte-Barbo,
Brüder der christlichen Lehre, Lahme in ihren
Wägelchen re.

All diese Leute sprachen über den Eskimo Un-
erhörtes. Ein pausbäckiges Baby ivars über
das Gitter Kügelchen, die es aus seinem gro-
ssen Roggcnbrod machte, und seine Eltern lachten
gerührt. Endlich rief ihm ein Borstadtjunge, als
der trübe Blick Tvogvolors den seinen traf, zu:
„Gelt, das ärgert Dich, Alter!"

Ja, es ärgerte ihn außerordentlich! Also
um dieses, durch das Mitwirken niederer Thiere
herabgesetzte Handiverk auszuüben, hatte er sein
Vaterland und Alles, was ihm lieb war, ver-
lassen! Zur Zerstreuung dieser gleichgiliigen, un-
barmherzigen Znschnuer hatte er sich freiwillig
sremden Leuten anvcrtraut, hatte er mit düsterem
Heldenmnth dem Mysteriuiii der ungeheuerlichen
Lokomotiven und des Dampfschiffes getrotzt.

Die Eindrücke dieses traurigen Tages riefen
in dem jungen Mann Gedanken wach, die in dem
ohnehin diirch die Bitternisse seelischer Einsamkeit
schon ermatteten Herzen die Träume von glück-
licher Liebe, politischer Größe und siegreicher
Heimkehr fast vernichteten.

Glücklicherweise legte er sich Abends mit einem
Sonnenstich nieder, dessen Fieber seine schwarzen
Gedanken ein wenig verscheuchte.

Ganze drei Monate hindurch eriveckte Too-
govlvr das Interesse zahlreicher Besucher. Er
ging den ganzen Tag, ohne daß man es ihm
zu befehlen brauchte, mit dem leichten, raschen
Schritt wilder Thiere aus und ab, die in eine
Falle gcrathc» sind. Dasiir nahm er aber wenig
Nahrung zu sich und verfiel zusehends.

Seine Bernnnst war bedeutend geschwächt,
aber man konnte es nicht ahnen, denn niemand
>var im Stande, ein Gespräch mit ihm zu führen.

Toogoolor hatte dennoch einen Freund, seinen
Nachbar, den Seehund.

Wenn das ganze Personal des ckarckin d'Accli-
matation ihn nn Schlaf glaubte, trat der Eskimo

durch das Fenster seiner Hütte heraus, kletterte
über das Gitter und suchte dieses Thier auf,
das wie er ein Netschuk war, eine „gemeine
Robbe," der letzte Anhänger, der ihm blieb.

Sie verständigten sich aus einem hügeligen
Rasen nächst devi Wasserbecken, wo sie beide aus
dem Bauche lagen.

Toogoolor psisf seinem Kameraden ganz leise
die heimathlichen Lieder vor »nd erzählte in
nüchterner Form all sei» Unglück. Er bat um
Rath.

Der Seehund hörte ohne Ungeduld mit ge-
kreuzten Pfoten zu, indem er im Mondcnscheine
seinen Nachbar mit großen, ansmerksamen, sausten
Augen anblickte.

Sv verflossen die Nächte rasch. Einmal ivard
Toogoolor sogar durch die Äorgenrundc des
Wärters überrascht. Er ivolltc nämlich dem
Seehund den Bericht von den Gemeinheiten
Seenteetnars z» Ende erzählen und ihn, die
Zärtlichkeit Jligniks anvertrauen.

Er ivard übrigens in seine Einfriedung zurück-
gebracht, ohne unter Rohheiten zu leide». Die
Wärter ivaren diesem von aller Bosheit freien
Pflegling ivohlgesinnt, der nicht mit dem Schädel
stieß, nicht mit den Füßen ausschlug und nie-
manden biß.

Um der Rcklamc einen günstigen Vorwand
zu liefern, wurde Toogoolor eines Abends in
die Oper geführt. Zwei Elesnntcnwärter ließen
ihn auf die dritte Galerie klettern und setzten
sich neben ihn. Man gab den „Propheten."

Der Eskimo hatte keinerlei Beivundernng für
die große Stiege und die taghelle Beleuchtiing
des Theaters gezeigt, denn die Stiegen schienen
ihm ebenso mühsam zu ersteigen wie andere, und
das Gaslicht schmerzte und ermüdete ihn. Aber

e bei Beginn des Schauspieles, machte er
.. n und Ohren weit ans und athniete die Musik
gierig durch die aufgeblähten Nasenlöcher.

Er erhob sich, streckte die Arme aus M
stanimelte mühsam einige bewegte Worte "
seiner absonderlichen Sprache.

Es kam zu einem Skandal; von allen Sem'
erhob man entschiedenen Ettuvand. ....

Toogoolor, von seinen beiden Begleitern hell'»
gezogen, blickte einen nach dem andern verdm
an und setzte sich, zur Wirklichkeit zurückgekelft'-
friedlich ivieder hui.

Kummer, Müdigkeit, freiwillige Entbehrunge'ß
Klimaivcchscl und die im Freien beinr Scehu"^
verbrachten Nächte hatten in dem Netschuk dc>
Keim zur Lungenschwindsucht gelegt.

Diese böse Krankheit machte im Herbst rcM.
Fortschritte; dennoch wollte Toogoolor in inst» h
tiver Erkenntniß der Berufspflicht seinen D>c">
nicht unterbrechen. ,

Man konnte ihn noch im Monat Oktober rN'!.'s
los in seiner Umfriedung auf den gelben BlätttU
der nackten Bünmc auf und abgehcn sehen. WA
Gewohnheit der Brustkranken täuschte er sich *ll'c
seine Lage und kehrte zur Hoffnung zurück. ,
Er machte Pläne fiir die Heimreise und
rettete die Erklärungen vor, die er da oben »t'L
die Zeit seiner Abwesenheit liefern ivollte »"
stellte in naiver List lügnerische Geschichten zusa>',
men, in denen er grone Dinge vollbracht bat'':
Das Bild der kleinen Jliqnik war feine»'
Geiste immer gegenwärtig. Er hatte die Lw
der HochzeitSgeschenke, die er ihr bringen woUss'
zusammengestellt. Es war Porzcllangeschirr, ews
Truhe, zwei Strohsessel, ein Elefant und Ponia^:
Auch den Seehund ivürde er mitnehmen, "
keinerlei Kummer hinter sich zu lassen. „

Eines Morgens gestatteten ihm seine vei'
fallenden Kräfte nicht mehr, sich zu erhebe ;
Toogoolor nahm diese Prüfung als eine non
wendige Ruhezeit vor seiner großen Reise h>w
Die leichte Agonie dauerte einige Tage. Z
näher der Tod kam, desto fester vertraute
jungeMensch seiner Zukunft. Dem Krankenwärter
der ohne zu verstehen, beifällig mit dem KM,
nickte, schilderte er seinen Einzug in das fcstlE
Jrgonok. Er hörte rauschende Musik, zu derc>
Tönen Nctschuksche Eislüufer im Schimmer e»>e^
nördlichen Glorienscheines tanzte». . .

Bei hcrcinbrechender lllacht endlich verschu"
er, den Name» seiner Liebsten slüsternd. ....

Einige Zeit nachher schrieb der amerikanyllll
Unternehmer der „Loeiöte d’Acclimatation', ,
wolle die Erbschaft antreten, und bat, daß nE
ihm seinen Eskimo schicke, sobald er ausgestop!'
Wäre. (AuS dem Französischen von Cl. Theumanv^

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Register
Hans Christiansen: Zeichnung ohne Titel
Julius Diez: Vignette
 
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