Nr. 38
JUGEND
1897
Der Halkijomer
Eine Sammlung Schlnszreime
von Gtto Lrich Dartleben
III.
Damit die Menschen sich im Leben nicht
verlieren,
Pflegt man sie hier und da geschickt zu
copnliren.
Wir Deutsche fürchten Gott und sonst Nichts
in der Welt,
Er ist es, der allein Thron und Altar erhält.
Doch Gott ist überall, drum fühlen wir ihn
wohnen
Auch in der Polizei, in Flinten und Kanonen.
Der Dichter ist mit Necht von aller Welt
beneidet,
Weil er schön Lichten kann, wenn seine Seele
leidet.
Der Vater sprach: mein Sohn, betrachte
diesen Thaler,
Er gilt schon hundert Jahr, sein Werth ist
ein realer.
Doch Deine Mutter schau: ob sie erst fünfzig
zwar.
Ist doch schon lang nicht mehr, was sie vor
Jetten ivar.
" »
Die Sittlichkeit thut noth! Ach müßt' ich
nur den Grund!
Die Sittrnlosigkeit ist mir doch so gesund.
Den Freunden traue so wie Deinem eignen
Herzen,
von dem Du morgen schon erfährst die
tiefsten Schmerzen.
Ein Herrscher dieser Wett, der Alles wohl
bedacht,
Gibt seinem Volk das Necht und niimnt
sich selbst die Macht.
Unschuld
Skiije von Leo Hildeck.
Der Engel der Unschuld sah einen
unbekannten, dunklen Geist mit froh la-
chendem Angesicht vorüberschweben und
rief bewundernd: Welche Anmuth, welch’
anziehendes, schönes Selbstbewusstsein!
Sag’ — bist Du der Engel der Grösse —
des Muthes?
Der Geist der Verderbniss blickte scheu
zur Seite und erröthete zum erstenmal —
vielleicht auch zum letzten.
Das Landstädtchen war so schön ge-
gelegen, der Wald so nah und das Fels-
gestein darin so zerklüftet, dass die Stadt-
väter daran dachten, aus dem stillen, welt-
abgeschiedenen Nest einen Luftkurort zu
machen.
Einstweilen durften sie mit dem besten
Gewissen in ihren Zeitungsannoncen ver-
sichern, dass es für ruhe- und waldluft-
bedürftige Grossstädter kein geeigneteres
Plätzchen gebe, um die empörten Nerven
in Ruhe zu wiegen.
Der Frühling kam und brachte ein paar
Passanten in Lodenröcken, von denen einer
den stillen, sönnigen Marktplatz mit der
Stiftskirche und der alten Obsthöckerin
photographirte. Einige Tage lang hatte
man Gesprächsstoff, und die Stadtväter
nickten einander ermuthigend zu. Darauf
trat wieder die alte Stille ein — monate-
lang.
BR' POVL-
Auf der grossen Steindiele und im
Gärtchen des Bürgermeisters aber spielte
Hilde, sein zwölfjähriges Töchterchen, mit
der gleichaltrigen Freundin Anna und einer
grossen Puppenschaar „Luftkurort“. In
den Kindergemüthern hatten die Gespräche
der Eltern neue Spielmotive angeregt. Die
Puppen wurden über Felsen von Treppen-
stufen in dem dichten Wald der Gras-
plätze umhergeführt und bewunderten die
Gegend. Eines der Püppchen photogra-
phirte Steine und Ameisenhaufen. Die
kleinsten wurden schliesslich zum Aus-
ruhen in Blumenkelche gesetzt und ge-
wiegt; dies waren natürlich Prinzen und
Prinzessinnen, und die Schmetterlinge, die
sie besuchten, Boten von fremden Königs-
höfen.
Kaum waren die Schulstunden und Auf-
gaben erledigt, so eilten Hilde und Anna,
sich in ihr phantastisches Spiel zu ver-
tiefen, dem sie täglich neue verblüffende
Wendungen zu geben wussten. Jeder neue
Einfall wurde bejubelt und bis zur letzten
Möglichkeit ausgebeutet. Wie herrlich sollte
es erst in den Sommerferien werden!
Und als die Bürgermeisterin Hilde mit
der Nachricht überraschte, dass sie die
Ferien auf dem Gute des Onkels Adolf
zubringen solle, brach zu ihrem Erstaunen
das Kind in Thränen aus. O — gerade
in den Ferien! Und Papa hatte gesagt,
dass im Juli ohne Zweifel Fremde kommen
würden — und was für interessante Be-
gebenheiten würde sie da versäumen —
und wie traurig war die Trennung von
Anna! Aber die sollte gleichfalls verreisen.
Der kindlichen Phantasie, die das
Wunderbarste erwartete, schien plötzlich
die Nahrung entzogen. Onkel Adolfs Gut,
das sie kannte und sonst als Paradies er-
sehnt hatte, kam ihr plump und öde vor
im Vergleich zu den erhofften Wundern
des Fremdenzuzugs.
Morgen sollte es fortgehen. Aber der
letzte, freie Nachmittag musste noch gründ-
lich ausgekostet werden. Die Kinder hatten
sich verabredet und trafen sich in einer
Nebengasse. Die Taschen so vollgestopft
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1897
Der Halkijomer
Eine Sammlung Schlnszreime
von Gtto Lrich Dartleben
III.
Damit die Menschen sich im Leben nicht
verlieren,
Pflegt man sie hier und da geschickt zu
copnliren.
Wir Deutsche fürchten Gott und sonst Nichts
in der Welt,
Er ist es, der allein Thron und Altar erhält.
Doch Gott ist überall, drum fühlen wir ihn
wohnen
Auch in der Polizei, in Flinten und Kanonen.
Der Dichter ist mit Necht von aller Welt
beneidet,
Weil er schön Lichten kann, wenn seine Seele
leidet.
Der Vater sprach: mein Sohn, betrachte
diesen Thaler,
Er gilt schon hundert Jahr, sein Werth ist
ein realer.
Doch Deine Mutter schau: ob sie erst fünfzig
zwar.
Ist doch schon lang nicht mehr, was sie vor
Jetten ivar.
" »
Die Sittlichkeit thut noth! Ach müßt' ich
nur den Grund!
Die Sittrnlosigkeit ist mir doch so gesund.
Den Freunden traue so wie Deinem eignen
Herzen,
von dem Du morgen schon erfährst die
tiefsten Schmerzen.
Ein Herrscher dieser Wett, der Alles wohl
bedacht,
Gibt seinem Volk das Necht und niimnt
sich selbst die Macht.
Unschuld
Skiije von Leo Hildeck.
Der Engel der Unschuld sah einen
unbekannten, dunklen Geist mit froh la-
chendem Angesicht vorüberschweben und
rief bewundernd: Welche Anmuth, welch’
anziehendes, schönes Selbstbewusstsein!
Sag’ — bist Du der Engel der Grösse —
des Muthes?
Der Geist der Verderbniss blickte scheu
zur Seite und erröthete zum erstenmal —
vielleicht auch zum letzten.
Das Landstädtchen war so schön ge-
gelegen, der Wald so nah und das Fels-
gestein darin so zerklüftet, dass die Stadt-
väter daran dachten, aus dem stillen, welt-
abgeschiedenen Nest einen Luftkurort zu
machen.
Einstweilen durften sie mit dem besten
Gewissen in ihren Zeitungsannoncen ver-
sichern, dass es für ruhe- und waldluft-
bedürftige Grossstädter kein geeigneteres
Plätzchen gebe, um die empörten Nerven
in Ruhe zu wiegen.
Der Frühling kam und brachte ein paar
Passanten in Lodenröcken, von denen einer
den stillen, sönnigen Marktplatz mit der
Stiftskirche und der alten Obsthöckerin
photographirte. Einige Tage lang hatte
man Gesprächsstoff, und die Stadtväter
nickten einander ermuthigend zu. Darauf
trat wieder die alte Stille ein — monate-
lang.
BR' POVL-
Auf der grossen Steindiele und im
Gärtchen des Bürgermeisters aber spielte
Hilde, sein zwölfjähriges Töchterchen, mit
der gleichaltrigen Freundin Anna und einer
grossen Puppenschaar „Luftkurort“. In
den Kindergemüthern hatten die Gespräche
der Eltern neue Spielmotive angeregt. Die
Puppen wurden über Felsen von Treppen-
stufen in dem dichten Wald der Gras-
plätze umhergeführt und bewunderten die
Gegend. Eines der Püppchen photogra-
phirte Steine und Ameisenhaufen. Die
kleinsten wurden schliesslich zum Aus-
ruhen in Blumenkelche gesetzt und ge-
wiegt; dies waren natürlich Prinzen und
Prinzessinnen, und die Schmetterlinge, die
sie besuchten, Boten von fremden Königs-
höfen.
Kaum waren die Schulstunden und Auf-
gaben erledigt, so eilten Hilde und Anna,
sich in ihr phantastisches Spiel zu ver-
tiefen, dem sie täglich neue verblüffende
Wendungen zu geben wussten. Jeder neue
Einfall wurde bejubelt und bis zur letzten
Möglichkeit ausgebeutet. Wie herrlich sollte
es erst in den Sommerferien werden!
Und als die Bürgermeisterin Hilde mit
der Nachricht überraschte, dass sie die
Ferien auf dem Gute des Onkels Adolf
zubringen solle, brach zu ihrem Erstaunen
das Kind in Thränen aus. O — gerade
in den Ferien! Und Papa hatte gesagt,
dass im Juli ohne Zweifel Fremde kommen
würden — und was für interessante Be-
gebenheiten würde sie da versäumen —
und wie traurig war die Trennung von
Anna! Aber die sollte gleichfalls verreisen.
Der kindlichen Phantasie, die das
Wunderbarste erwartete, schien plötzlich
die Nahrung entzogen. Onkel Adolfs Gut,
das sie kannte und sonst als Paradies er-
sehnt hatte, kam ihr plump und öde vor
im Vergleich zu den erhofften Wundern
des Fremdenzuzugs.
Morgen sollte es fortgehen. Aber der
letzte, freie Nachmittag musste noch gründ-
lich ausgekostet werden. Die Kinder hatten
sich verabredet und trafen sich in einer
Nebengasse. Die Taschen so vollgestopft
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