Nr. 4 1
J LIGEN D
1897
Hcinr. Bccckc (München).
Ruhe
Der Sommer blühte, da zum ersten Mal
Dein neckisch Auge lachend mich umspielte;
Dann kam ein welker kühler Herbst durch’s
Land,
Du legtest still Dich, blass und fröstelnd nieder,
Und nun ist Winter, und Du gehst zur Ruhe —
O, meine Freundin, Deine lluh’ ist lang.
Noch leuchtet um mich jener erste Tag.
Zum Meere kam ich, um die Sommerrast
Am weiten Strande lässig zu verschleudern,
Und träumend stand ich auf der Steinterrasse,
Sah lang den Wellen und den Möven zu
Und ringelte den Rauch der Cigarette.
Da kam vom Ufer eine schlanke Frau.
Ihr rosig Töchterchen blieb froh zurück,
Im Kinderkreis mit Sand und Muscheln spielend.
Sie aber kam mit wonnig leichtem Schritt,
So jung, so frisch, in weissem Strandgewande,
Den weissen Federhut auf braunen Locken.
Und wie sie aufblickt, hab’ ich Dich erkannt
Und Du erkanntest mich und winktest lachend.
Ich weiss nicht, wie es kam — im Stadtgewühle
Da waren wir uns achtlos nur und flüchtig
Gleichgültigen Blicks bei Fest und Tanz be-
gegnet ;
Doch hier fernab, im Bann des blauen Meeres —
Ich weiss nicht, wie es kam — beim ersten
Wort,
Du hast mir später selber es erzählt,
Da ward uns beiden seltsam froh zu Muth,
Wie wenn sich Jugendfreunde wiederfinden.
Auf schwanken Wogen wiegt sich das
Gespräch;
Das war ein Scherzen, war ein Pläneschmieden.
Wir wollten segeln, und Lawntennis spielen,
Zum Leuchtthurm fahren und den Wald
durchstreifen.
„Und nur nicht ruhen!“ fügst Du lachend zu,
„Die müde Ruhe bleibt mir stets verhasst:
Die matten blassen Farben steh n mir nicht,
Ich lieb' der Rose dunkelrothe Gluth
Und hastigbuntes ruheloses Leben.“
Wir schritten nieder dann zum Steingeröll
Und sassen lange auf dem Felsenriff,
An dem die Welle laut aufbrausend brandet.
O, alle Sinne lauschten der Natur,
Und voll Entzücken blickst Du über's Meer,
Auf dem die stolzen weissen Segel gleiten.
Dann sank die Sonne, und die Dämm'rung kam,
Der Wind verstummt, es glättet sich die See,
Mit mattem Segel zieht der Schiffer heim.
Da plötzlich klang mit hohlem bangem Ton
Ein kurzes Hüsteln durch die Abendstille;
Behutsam schlingst Du warm um Hals und
Schulter
Den rothen Seidcnshawl; ich aber sah,
Du bebtest wie vor einem düstren Schatten.
Dann sprachst Du leise und erzitternd matt:
„Mich stimmt’s unsagbar traurig allezeit
Solch’ Bild der Ruhe nach des Tages Wogen,
Kraftlos Ermatten ohne Kampf und Sieg.
Und stockt der Wind, zum Hafen kehrt das
Boot,
Das sich zu reicher voller Fahrt geschmückt,
Kein stolzer Blitz hat seinen Mast zersplittert,
Nur windlos hängt das Segel müd herab
Und schlottert schlaff und lässig um den Mast —
Dann ist’s, als seh' ich in ein Menschenleben,
Das sich zur Fahrt auf's hoheMeer geschmückt.
Der Sehnsucht voll nach goldnen Sonnner-
tagen,
Und dem der Körper jung die Kraft versagt,
Bis es sich still zur langen Ruhe legt:
So starb die Mutter mir, so starb die Schwester.“
Und langsam stieg der Vollmond aus derFluth
Und spiegelt zitternd seinen Strahlenschein
Und giesst ein schimmernd blasses Silberlicht
Verführerisch weich über Fels und Strand
Und überrieselt uns -— — —
Das waren selig schöne Sommertage;
Zu vollen Wochen blühte mir das Glück
Dann kam ein welker, kühler Herbst durch’s
Land,
Du zogst zur Stadt und legtest blass Dich
nieder.
Wohl bracht’ ich Dir der rothen Rosen Gross,
Der ruhelosen, die Du so geliebt;
Sie welkten still an Deinem Krankenbett.
Und nun ist Winter, und das Schifflein kehrt
Mit schlaffen Segeln still zum Hafen heim.
Wohl flockt der Schnee schier lustig um
Dein Haus,
Wir aber tragen Dich hinaus zur Ruhe,
So wie Du bang und zitternd es geahnt.
O, meine Freundin, Deine Ruh’ ist lang —
Und niemals wieder werd' ich Frieden finden
IIANS TERBERG.
Ke Origenöeir Mb öie Allster
Von M. I. Ssaltykow-Schtschedrin
aie Tugenden und die Laster lebten schon seit
Oliins Zeiten in Feindschaft; die Laster
führten ein Freudenleben und wußten ihre Bor-
theile meisterhaft wahrznnehinen, die Tugenden
dagegen hatten kein so beneidenswerthes Loos,
dasür aber ivurden sie in den Schulvorschriften,
in Fibeln und Lehrbüchern als nadiahmenswerthe
Beispiele ausgestellt. Insgeheim dachten sie zwar:
„Ach, wenn es uns doch auch >vie den Lastern
gelingen tvollte, fette Bissen zu erhaschen!" Und
— wir wollens nur verrathen — bisweilen ge-
lang es ihnen auch.
Wann und wodurch die Feindschaft eigent-
lid) entstanden war, weis; man nicht recht, doch
darf tvohl angenommeit werden, das; die Tugen-
den den ersten Funken angefad;t hatten. Die
Laster waren schlaue Kunden und voller Ränke;
wenn sie, in Seide und Sammt gehüllt, auf
feurigen Rossen in die Welt hineinsprengteit und
schamlos prahlend sich brüsteten, dann konnten es
ihnen die Tugenden nicht gleichthun — und das
kränkte sie. Sie ärgerten sich über solchen Hohn
und beschimpsten die Laster ans allen Stegen und
Wegen. Ueberall krochen sie, in ihre Lumpen
gehüllt, hervor und riefen den Vorübergehenden
zu: „Nicht wahr, hochverehrte Damen und Herren,
trotz unsrer Schäbigkeit sind wir Euch doch lieb
und werth?" Die Leute aber entgegneten darauf:
„Seht nur das Lumpengesindel an! Gott mit
Euch, macht das; Ihr weiterkommt!"
Run beschlossen die Tugenden, sich an die
Gendarmen zu tuenden und deren Hilfe in An-
spruch stt nehmen. „Weshalb haltet Ihr nicht
Ordnung? Seht Ihr denn nicht, das; die Laster
das ganze Pnbiikuin in den Koth zerren?" Aber
die Gendarmen kehrten sich nicht daran und salu-
tifteu den Lastern nach wie vor. Die Tugenden
hatten das Nachsehn und trösteten sich mit Droh-
nngen: „Wartet nur, Ihr Hallunken, man wird
Euch bald ins Zuchthaus stecken!"
Die Laster aber kümmerten sich nicht darum,
sie eilten vorüber und riefen den Tugenden
höhnisch zu: „Wenn Ihr glaubt, das; wir uns
vor dem Zuchthaus fürchten, so macht Ihr Euch
nur lächerlich. Ob >vir in's Zuchthaus kommen
oder nicht, ist noch die Frage, — Ihr aber steckt
schon seit Eurer Geburt darin! Seht nur diese
Neidhämmel an, nichts lvie Haut und Knoche»,
aber ihre Augen glühen vor Bosheit. Sie
möchten gern die Trauben habe», aber sie hänge»
ihnen zu hoch!"
Kurz, der Skandal wurde tagtäglich größer;
es war sogar schon zu Thätlichkeilen gekommen,
aber die Tugenden hatten stets den Kürzeren
gezogen — das Glück war ihnen nicht hold. Die
Laster blieben Sieger, schlugen die Tugenden in
Fesseln und riefen ihnen dann zu: „Haltet Ruhe,
Ihr gemeines Lumpenpack!"
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J LIGEN D
1897
Hcinr. Bccckc (München).
Ruhe
Der Sommer blühte, da zum ersten Mal
Dein neckisch Auge lachend mich umspielte;
Dann kam ein welker kühler Herbst durch’s
Land,
Du legtest still Dich, blass und fröstelnd nieder,
Und nun ist Winter, und Du gehst zur Ruhe —
O, meine Freundin, Deine lluh’ ist lang.
Noch leuchtet um mich jener erste Tag.
Zum Meere kam ich, um die Sommerrast
Am weiten Strande lässig zu verschleudern,
Und träumend stand ich auf der Steinterrasse,
Sah lang den Wellen und den Möven zu
Und ringelte den Rauch der Cigarette.
Da kam vom Ufer eine schlanke Frau.
Ihr rosig Töchterchen blieb froh zurück,
Im Kinderkreis mit Sand und Muscheln spielend.
Sie aber kam mit wonnig leichtem Schritt,
So jung, so frisch, in weissem Strandgewande,
Den weissen Federhut auf braunen Locken.
Und wie sie aufblickt, hab’ ich Dich erkannt
Und Du erkanntest mich und winktest lachend.
Ich weiss nicht, wie es kam — im Stadtgewühle
Da waren wir uns achtlos nur und flüchtig
Gleichgültigen Blicks bei Fest und Tanz be-
gegnet ;
Doch hier fernab, im Bann des blauen Meeres —
Ich weiss nicht, wie es kam — beim ersten
Wort,
Du hast mir später selber es erzählt,
Da ward uns beiden seltsam froh zu Muth,
Wie wenn sich Jugendfreunde wiederfinden.
Auf schwanken Wogen wiegt sich das
Gespräch;
Das war ein Scherzen, war ein Pläneschmieden.
Wir wollten segeln, und Lawntennis spielen,
Zum Leuchtthurm fahren und den Wald
durchstreifen.
„Und nur nicht ruhen!“ fügst Du lachend zu,
„Die müde Ruhe bleibt mir stets verhasst:
Die matten blassen Farben steh n mir nicht,
Ich lieb' der Rose dunkelrothe Gluth
Und hastigbuntes ruheloses Leben.“
Wir schritten nieder dann zum Steingeröll
Und sassen lange auf dem Felsenriff,
An dem die Welle laut aufbrausend brandet.
O, alle Sinne lauschten der Natur,
Und voll Entzücken blickst Du über's Meer,
Auf dem die stolzen weissen Segel gleiten.
Dann sank die Sonne, und die Dämm'rung kam,
Der Wind verstummt, es glättet sich die See,
Mit mattem Segel zieht der Schiffer heim.
Da plötzlich klang mit hohlem bangem Ton
Ein kurzes Hüsteln durch die Abendstille;
Behutsam schlingst Du warm um Hals und
Schulter
Den rothen Seidcnshawl; ich aber sah,
Du bebtest wie vor einem düstren Schatten.
Dann sprachst Du leise und erzitternd matt:
„Mich stimmt’s unsagbar traurig allezeit
Solch’ Bild der Ruhe nach des Tages Wogen,
Kraftlos Ermatten ohne Kampf und Sieg.
Und stockt der Wind, zum Hafen kehrt das
Boot,
Das sich zu reicher voller Fahrt geschmückt,
Kein stolzer Blitz hat seinen Mast zersplittert,
Nur windlos hängt das Segel müd herab
Und schlottert schlaff und lässig um den Mast —
Dann ist’s, als seh' ich in ein Menschenleben,
Das sich zur Fahrt auf's hoheMeer geschmückt.
Der Sehnsucht voll nach goldnen Sonnner-
tagen,
Und dem der Körper jung die Kraft versagt,
Bis es sich still zur langen Ruhe legt:
So starb die Mutter mir, so starb die Schwester.“
Und langsam stieg der Vollmond aus derFluth
Und spiegelt zitternd seinen Strahlenschein
Und giesst ein schimmernd blasses Silberlicht
Verführerisch weich über Fels und Strand
Und überrieselt uns -— — —
Das waren selig schöne Sommertage;
Zu vollen Wochen blühte mir das Glück
Dann kam ein welker, kühler Herbst durch’s
Land,
Du zogst zur Stadt und legtest blass Dich
nieder.
Wohl bracht’ ich Dir der rothen Rosen Gross,
Der ruhelosen, die Du so geliebt;
Sie welkten still an Deinem Krankenbett.
Und nun ist Winter, und das Schifflein kehrt
Mit schlaffen Segeln still zum Hafen heim.
Wohl flockt der Schnee schier lustig um
Dein Haus,
Wir aber tragen Dich hinaus zur Ruhe,
So wie Du bang und zitternd es geahnt.
O, meine Freundin, Deine Ruh’ ist lang —
Und niemals wieder werd' ich Frieden finden
IIANS TERBERG.
Ke Origenöeir Mb öie Allster
Von M. I. Ssaltykow-Schtschedrin
aie Tugenden und die Laster lebten schon seit
Oliins Zeiten in Feindschaft; die Laster
führten ein Freudenleben und wußten ihre Bor-
theile meisterhaft wahrznnehinen, die Tugenden
dagegen hatten kein so beneidenswerthes Loos,
dasür aber ivurden sie in den Schulvorschriften,
in Fibeln und Lehrbüchern als nadiahmenswerthe
Beispiele ausgestellt. Insgeheim dachten sie zwar:
„Ach, wenn es uns doch auch >vie den Lastern
gelingen tvollte, fette Bissen zu erhaschen!" Und
— wir wollens nur verrathen — bisweilen ge-
lang es ihnen auch.
Wann und wodurch die Feindschaft eigent-
lid) entstanden war, weis; man nicht recht, doch
darf tvohl angenommeit werden, das; die Tugen-
den den ersten Funken angefad;t hatten. Die
Laster waren schlaue Kunden und voller Ränke;
wenn sie, in Seide und Sammt gehüllt, auf
feurigen Rossen in die Welt hineinsprengteit und
schamlos prahlend sich brüsteten, dann konnten es
ihnen die Tugenden nicht gleichthun — und das
kränkte sie. Sie ärgerten sich über solchen Hohn
und beschimpsten die Laster ans allen Stegen und
Wegen. Ueberall krochen sie, in ihre Lumpen
gehüllt, hervor und riefen den Vorübergehenden
zu: „Nicht wahr, hochverehrte Damen und Herren,
trotz unsrer Schäbigkeit sind wir Euch doch lieb
und werth?" Die Leute aber entgegneten darauf:
„Seht nur das Lumpengesindel an! Gott mit
Euch, macht das; Ihr weiterkommt!"
Run beschlossen die Tugenden, sich an die
Gendarmen zu tuenden und deren Hilfe in An-
spruch stt nehmen. „Weshalb haltet Ihr nicht
Ordnung? Seht Ihr denn nicht, das; die Laster
das ganze Pnbiikuin in den Koth zerren?" Aber
die Gendarmen kehrten sich nicht daran und salu-
tifteu den Lastern nach wie vor. Die Tugenden
hatten das Nachsehn und trösteten sich mit Droh-
nngen: „Wartet nur, Ihr Hallunken, man wird
Euch bald ins Zuchthaus stecken!"
Die Laster aber kümmerten sich nicht darum,
sie eilten vorüber und riefen den Tugenden
höhnisch zu: „Wenn Ihr glaubt, das; wir uns
vor dem Zuchthaus fürchten, so macht Ihr Euch
nur lächerlich. Ob >vir in's Zuchthaus kommen
oder nicht, ist noch die Frage, — Ihr aber steckt
schon seit Eurer Geburt darin! Seht nur diese
Neidhämmel an, nichts lvie Haut und Knoche»,
aber ihre Augen glühen vor Bosheit. Sie
möchten gern die Trauben habe», aber sie hänge»
ihnen zu hoch!"
Kurz, der Skandal wurde tagtäglich größer;
es war sogar schon zu Thätlichkeilen gekommen,
aber die Tugenden hatten stets den Kürzeren
gezogen — das Glück war ihnen nicht hold. Die
Laster blieben Sieger, schlugen die Tugenden in
Fesseln und riefen ihnen dann zu: „Haltet Ruhe,
Ihr gemeines Lumpenpack!"
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