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1897

JUGEND

Nr. 41

blasse Kerl erschien in der Thüre. Er grinste
und sah mich blöde an.

„Na, KaPellmeistercheu," rief ihm Grcthe
witzig entgegen. ,,'Ne Kleinigkeit oder 'n Glas
Bier", raunte sic mir in's Ohr, dein sie ohnehin
sehr nahe war. Ich folgte ihrem Rath, und er
störte nicht weiter.

„Wo ivarst Dn nun eigentlich, eh' Du hier
umvft?" fragte ich leichthin, aber doch voll Wissens-
drang, — cs hatte sich inzwischen ein wohlbe-
gründcter Wechsel in der gegenseitigen Anrede
vollzogen.

„Zn Hanse."

„llnd wieso bist Du hierher gekommen?"

„Ach las; man! Das is 'ne eklige Sache."

In mir crivachte der Dichter, Ich wollte
Lebensschicksale kennen lernen. Und gerade hier
konnte etwas Interessantes zu erfahren sein.

„Erzähle doch! Das mvcht' ich doch gern
lotsten. Wie >var das?"

„Jar nischt war. Faul war ich. Das heisst,
ich wollte ooch 'mal was vom Leben haben.

'S ja wahr! So '» junges Mädel! llnd 'en
janzcn Tag nähen. Zum auslvachsen!"

„tzc'a, und weiter?"

„Jar nischt weiter. Da hat mir Mutter eines
Tages gesagt, ich soll sehen, wie ich alleene »weiter
komme, lln ich nach Berlin, hastenichjesehn."

„Mutter ist ivohl sehr streng?"

„Mutter is 'n Aasknochen!" Und die glänzen-
den Augcir funkelten.

In mir erwachte mit jähem Mfiirt der Ethiken
„Psni," 'schrie ich, „Grcthe, schäm' Dich was!

So spricht man nicht von seiner Mutter!"

Sie war aufgesprungen vor Schreck über den
Skandal, mit dem meine Faust meine ehrliche
Entrüstung durch einen dröhnenden Schlag auf
den Tisch akkvmpagnirtc: „Weesste!"

„Nein!" schrie ich immer noch, „Pfui! So
darf kein Mensch reden! Das ist niedrig!" Ich
tonnte mich gar nicht beruhigen.

Olga und der blasse Kerl kamen herein.
„Was is denn hier los? — Ihr amüsirt Euch
lvohl sehr jut?"

Grcthe ärgerte sich. Sic wollte die Sache offen-
bar gern mit mir allein ausglcichen. Ein paar
Bemerkungen von „neugieriger Bande" und von
„kein Wort mit Jemand sprechen können, ohne —"
genügten jedoch, die andern zu verscheuchen.

Sie sah mich freundlich, ja, es >var keine
Täuschung, liebevoll mi: ..Eijentlich haste ja
Recht, Kleener. Schön war's nich."

In mir jubilirte cs. Ein Gefühl des moral-
ischen Ucbergcwichts verband sich mit dem Selbst-
bcwusstsein ethisircnder K raft zu einer Empfindung
glücklichen Stolzes. Ich hatte gesiegt mit den
Waffen des Geistes. Zum ersten Male! Und
von Ferne her dämmerte es mir, als sei hier
eine Mission für mich zu erfüllen. Ich fuhr mir
bedeutend über die Stirn und die Haare, was
jedenfalls sehr schön aussah.

Grcthe setzte sich wieder zu mir. „Sieh' mal, ich
hab's doch blos jesagt, weil schließlich doch Mutter
Schuld hat, das; ich hier in dem Saulvch bin."

„Nee: Du!"

„Nee: Mutter!"

„Wir wollen uns nicht wieder streiten,"
brach ich ab und fuhr, an dem gegebenen
Punkte svstematisch einsetzend, wichtig fort:

„Du sagtest:'Snnloch! Es gefällt Dir hier
also nicht?"

„Nee, weiß Jott nich! Jede Nacht bis
zweie, dreie im Jeschäft! Un immer das
Jetrinke! Un die ewige Antütschelci von
den Jästcn —"

„Da? muß ja auch widerlich sein."
stimmte ich entrüstet bei und streichelte ihr
die Wange. „Aber >vie bist Dn denn nun
hierher gekommen?" Ich war nicht ge-
sonnen, meine Forschungen nuszugeben.

„Durch'» Agenten. So'n Asse! Eon-
sektioneuse wollt'ich iverden oder sonst' waS
Besseres. Lootst mich der Kerl hierher!"

In mir erwachte der Socinlpolitilcr.

Er vereinigte sich mit den bereits genann-
ten, früher erwachten Herren, dem Dichter
und dem Ethiker, und stiftete mit ihnen
einen schönen Rütlibund. „Das ist doch
unerhört," rief ich, „diese gewissenlose Ge- Fran
scllschast! Und so'n Mädl ist nun ganz
iclmtzlos!"

„Hat man denn 'ne Ahnung, wo man hin-
kommt?" bestätigte Grcthe eifrig. „Bon so '» Lokal
Hab' ich doch nie was jehört! Nachher is man schon
froh, wenn man wo 'ne feste Stellung hat."

Wie klar und schön lvar das alles! Konnte ich
mir einen deutlicheren Fall denken oder wünschen?
Hier war Lebensernst! Hier waren Probleme!
O, und so traurig war alles, so tief traurig!

Doch ich musste fort, zum Mittagbrot. Ich
schied mit der Versicherung, wieder zu komme».
Die Ideale in meinen Rocktaschen blähten sich
ordentlich aus, als ich durch die Kronenstraße
dahinschritt. Zn meinem Staunen bemerkte ich
dabei, daß mich ein zartes Gesicht mit vrära-
phaelitischcn Locken und merkwürdigen Augen
überall begleitete; und immer sah es mich, >vie
vorhin, freundlich, ja liebevoll an. So war es
auf dein Heimivege, so blieb es zu Hanse, so am
Abend, als ich zu meinem Freunde Felix wollte.

Der schöne Maienabend mit seiner lauen Liift
und seinem leisen Frühlingswispern war auch
nicht dazu geeignet, mich auf andere Gedanken
zu bringen. Ich machte also einen Umweg durch
die Kronenstraßc. Dn lvar es: Cafd Llvadia!
Nur ein schwacher Lichtschimmer drang durch die
dichten Vorhänge auf die Straße. Aber Gemurmel
und Stimmengewirr tönte dumpf herab, und der
Walzer vom Mittag erklang wieder, nur etwas
lebhafter; der blasse Kerl hatte jedenfalls schon
einiges getrunken. Es war offenbar sehr voll
und ging hoch her da drinnen.

Das alles passte mir nicht. Ich schritt hin
und her und bericth mich mit den drei Herren
in mir. Wir einigten uns schließlich dahin, ans
vielfachen Gründen jetzt nicht das Märchenland
Livadia zu betreten, sondern erst am kommenden
Vormittag. Ich ging zu Freund Felix, und die
drei Herren legten sich ans ein paar Stunden
schlafen oder spielten Skat — ich weis; es nicht
genau; jedenfalls merkte ich sie nicht mehr. Denn
mit Felix hatte ich andere hochwichtige Fragen
zu lösen, was nnS freilich erst gegen vier lihr
Morgens einigermaßen befriedigend gelang.

Am nächsten Tage aber erhoben sich die drei
mit mir zugleich. Und als die Zeit erfüllet
war, begaben wir uns klopfenden Herzens an
den Ort unserer gemeinschaftlichen Sehnsucht.

Die Situation war wie gestern. Das gleiche
Paar am Büffet, das gleiche auf dem Ti>ch —
die sanken Viehcher —; die gleiche gute Feiertags-
ruhe wehte durch die Zimmer-

Grcthe lvar noch nicht da. Unruhig mußte
ich warten. Erst nach einer halben Stunde er-
schien sic, hübsch und apart wie gestern, aber
ausfallend blaß. Das Wiedersehen war sehr innig.

Sie setzte sich zu mir und seufzte. Lange
Panse. Sic war wirklich sehr blaß, aber das
machte sie nur noch reizender. Endlich redete sie.

„Weißte noch, ivic Tn jestcrn hier ausjctrnmpft

hast?-Ich Hab' immer d'ran denken müssen."

— Pause. — „Un Recht haste eijentlich jehabt!
's war doch 'mal 'en, vernünftiges Wort von
'nein anständigen Menschen."

Ich sah sie anfnierksnin an. Das- arme Mädchen!
Es hatte also Eindruck auf sic gemacht. Und

l Christophe.

Kennen sieh Beide viel zu gut . . .

die bleiche Farbe ihrer Wangen — ob sie damit
in Zusammenhang stand? „Ist das Dein Ernst?"
fragte ich.

„Na jewis; doch! Mir iS das alles wieder
durch'» Kops jejangen. Mit Muttern un zu Hanse
un —", es schimmerte etwas in ihren Äugen.

Ich war überrascht. Das hatte ich nicht er-
wartet! Solch ein Erfolg!

„Wenn ich nur das verdammte Leben hier
nich anjefangen hätte," fuhr sic plötzlich auf, in
dem sie ein Streichhölzchen in Flammen setzte
und noch ein anderes daran entzündete. „Sv
'ne Zucht. Die Mädels wissen ja jar »ich, was
sie thun, wenn sie von Hanse tveglansen. — Nu
sitzt man da nn hat keinen Menschen! Nich
einen! Nich einen!" Sie hatte ihr Taschentuch
vorgenommen und trocknete sich z>vci dickeThränen
ab, die über ihre Wangen rollten. In mir wogte
ein Meer von Ergriffenheit, gemischt mit einem
Eimer von Stolz. Denn schließlich war ich doch
der Urheber dieser ganzen moralischen Zer-
knirschung.

„Beruhige Dich nur, Kind," tröstete ich, in-
dem ich sie übcr's Haar streichelte.

Aber das rührte sie nur noch mehr. „Ach
Gott, ach Gott. Is das ein Leben! Is das ein
Leben! Un nn is alles zu spät. Zu Hause bei
mir will feen Mensch mehr was von mir wissen.
Keine» Mensche» hat man! Nich einen!" Jetzt
gab eS ein Schluchzen. Sic legte das Gesicht
in die Hände ans den Tisch und weinte bitterlich.
Mir wurde sehr ernst zu Mnthc, und das arme
Geschöpf that mir in der Seele leid.

„Wo Ivohnen denn die Deinigen, Grcthe?"

„In Pasewalk," tönte cS in abgebrochenen
Silben.

„llnd hast Du lange keinen von zu Hanfe
gesehen?"

Da lvnrd sie ganz fassungslos, und am ganzen
Körper zitterte sic, als sic antworten wollte.
„Anderthalb Jahre! Keine Seele! Ach Gott,
ach Gott, ach Gott!"

„Dn hast ivohl doch so ein bischen Heimweh?"

„Och — riesig!"

Es war kein Zweifel: es kam ihr von Herzen,
was sie sagte. S o konnte doch kein Mensch
simulircn! Es lvar eben eine Katharsis cinge-
treten. Ich fuhr mir wieder bedeutend über
Stirn und Haupt, und drehte an den kleinen
Schnnrrbartspitzen. Ich hatte eine Idee, eine
erlösende Idee. Ich räusperte mich und begann.

„Höre, Grethc! Du bist doch nun so ein
liebes, so ein hübsches und doch auch ein gutes
Mädchen —" Sic hob den Kopf, und mich traf
ein halb verwirrter, halb zärtlicher Blick. „Wie
wäre cs nun, wenn Du wirklich diese Kneipen
lnst verließest?" Sic wurde ruhiger und nach-
denklicher, und nahm die Unterlippe zivischen die
Zähne. „Es kommt eben nur ans einen festen
Entschluß an!" Sie nahm abermals ein Streich
Hölzchen ans dem Ständer. „Alles im Leben
kommt ja ans einen festen Entschluß an!" Sie
zündete das Hölzchen an, wie vorhin; dann
nahm sie ein zweites. „Laß das jetzt! Grcthe,
sieh mich einmal an! Weißt Dn was,
schreib' einen Brief an Deine Mutter!"

Bei dem Wort packte cs sie von Neuem.
Sie ward wieder ganz weich, und che ich
mich dessen versah, halte sie mich weinend
umarmt und schluchzte an meinem Halse.
Ich warsehr glücklich. „Sieh, Grethelchen,
io kann noch alles gut werden! Das ist
das Beste und das Vernünftigste." Sie
nickte. „Dann kannst Du doch wieder ein
anständiges Leben beginnen!" Sie nickte

wieder. „Also-willst Du es thun?"

Und sie nickte noch einmal. Pause.

„Dann ivill ich Dir 'was sagen: ich
diktir' Dir den Brief." Da bekam ich einen
langen, allen Anforderungen durchaus ge-
nügenden Kuß. „Du bist doch 'n lieber
Kerl!" jubelte sie.

Ich wollte das Eisen schmieden, so lange
es warm lvar. „Weißt Du was, wir schrei-
ben jetzt gleich, ehe wieder 'was anderes
dazwischen kommt!" Ich bekam noch einen
Kuß und wehrte mich nicht. Grcthe war
selig. Sie stand aus, putzte sich tüchtig die
Nase, wie man daS ja nach einem erquick-
lichen Thräncnstrom, gewissermaßen als
Besiegelung der überwundenen seelischen
Krisis zu thun pflegt, ging und kam so-

Ü-.-I
Register
Franz Christophe: Kennen sich beide viel zu gut
 
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