Nr. 43
JUGEND
1897
Nachdem ich den schnellauf-
tauchenden Gedanken, die Uhr für
ein liebes Andenken an meinen
verstorbenen Vater auszugeben,
verworfen hatte, überreichte ich sie
ihm mit einer artigen Verbeugung.
Im selben Augenblick flogen die
Flügelthüren auf, eine wunder-
schöne Frau und ein lukullischer
Mittagstisch wurden sichtbar, und
der zuvorkommende Wirth bat
mich, die Bürgermeisterin zu Tisch
zu führen. Beim Dessert tranken
wir Brüderschaft. Er war ein Ge-
nie bis in die Fingerspitzen, ja,
nicht zum wenigsten in diesen.—
Für Geld bekommt man dort
Alles. Einmal, als ich es sehr
eilig hatte, war der Zug, mit dem
ich abfahren sollte, eine halbe
Stunde zu früh zur Station ge-
kommen.
„Fort!“ sagte ich und liess
einige Münzen in die Hand des
Stationsvorstehers fallen, der so-
gleich den Zug abpfiff, ohne die
richtige Zeit abzuwarten.
Als ich in den Waggon einstieg,
wollte eine wunderbar schöne,
majestätische Dame, von der mir
der Hotel-Portier vorher gesagt
hatte, dass sie eine Generalin
aus Kreta sei, sich mit stolzer
Würde in das Damencoupe zurück-
ziehen.
„Bitte sehr!“ flüsterte ich und
steckte ihr einen grösseren Schein
in ihr Händchen. Da setzte sie
sich auf meinen Schooss und liess
sich vier Stunden hintereinander
von mir abküssen.
Schlimmer erging es meinem
Freunde, einem Professor aus
Cambridge, der auch mit Staats-
stipendium reiste. Er schwor, dass
er niemals einem Schaffner einen
Heller Trinkgeld geben würde.
Und was passierte ihm? Einmal
in einem Nachtzuge kam der
Schaffner und koppelte seinen
Wagen los, sodass dieser mitten
auf der Bahnlinie stehen blieb und
von einem Güterzug, der hinterher-
kam, zerschmettert wurde. Die
Professorin bekam nicht einmal
sein Skelett wieder, denn der
nächste Bahnwärter verkaufte den
Leichnam um geringes an zwei
weniger bemittelte Studenten aus
Athen, die fürchterlich handelten.
O, wie die Finanzen in dem
Lande stehen müssen!
Aber bisweilen ist die Bestech-
lichkeit von grösstem Werth für
den Fremden. Die Balkanbewohner
haben nämlich schrecklich heisses
Blut, sodass sie sich durch ein
reines Nichts beleidigt fühlen, und
dann hat man im Handumdrehen
eine Herausforderung auf dem
Hals, ohne dass man weiss, wie
einem geschieht.
Ich bekam sogar zwei, ob-
schon ich mich sehr urban und
freundlich verhielt, wie es ja meine
Gewohnheit ist. Na, das hat noch
Niemand behaupten können, dass
Oberlehrer Schwindelfeld sich
fürchtet; aber es kann zweifelhaft
sein, wie weit ein Stipendiat das
Recht hat, sich abschlachten zu
Zwischenakt Ha"s Flüggen (München).
lassen, bevor er seinen Reise-
bericht abgeliefert hat. Daher
wählte ich auch immer die Pistole
als Waffe und gab den Sekun-
danten „Bakschisch“, damit sie
vorher die Kugeln herausnehmen
sollten-
Oben in Nordeuropa fliesst ja
das Blut ein wenig ruhiger, aber
ein Reisender mit offenem Blick
bekommt doch immer allerhand
zu sehen. So pflegte ich bei
meinem Aufenthalt in Berlin bis-
weilen das Cafe National zu be-
suchen.
Eines Abends nahm daselbst
ein junges Mädchen, das ungewöhn-
lich fein und nett aussah, ihre Cho-
colade, setzte sie auf meinen Tisch
hinüber und nahm neben mirPlatz.
Sie war entzückend hübsch; aber
ich dachte an meine Stellung,
meinen Rector, meine Klasse,
deren Vorstand ich bin, und an
alle Frauen in Krähwinkel und
ihre scharfen Zungen und rückte
ein wenig von ihr fort.
„Ich bin ein anständiges Mäd-
chen, mein Herr,“ flüsterte sie.
„Gestatten Sie mir, das zu be-
zweifeln!“ rief ich.
Aber es wardoch etwas in ihrem
Wesen, was mir so imponirie,
dass ich auf die phantastische Er-
zählung lauschte, die sie mir zum
besten gab. Sie wäre die Tochter
eines Regierungsrathes, hätte sich
kürzlich mit einem jungen Re-
ferendarius verlobt, liebe ihn von
ganzer Seele und glaube, dass sie
in ihm den strengen, sittlich reinen
Mann gefunden hätte, dessen sie
bedürfe, um glücklich zu werden,
denn sie hätte eine solche „Hand-
schuh-“Moral, wie man das nennt,
dass sie absolut dieselbe sittliche
Reinheit bei dem Manne verlange,
wie bei einem besseren Fräulein.
Und nun hätte sie mitten in ihrem
Glück gehört, dass er an Orte,
wie dieser, hinzugehen pflege. Sie
hoffe, es wäre nur Verleumdung;
hätte aber in jedem Fall beschlos-
sen, einen ganzen Monat lang
jeden Abend hierherzugehen, um
zu sehen, ob er herkäme . . .
Dabei zeigte sie mir einen
reizenden kleinen, aber allzuscharf
geschliffenen Dolch unter dem
Tisch.
„Hu, lassen Sie das, Fräulein!“
sagte ich ängstlich; aber sie lachte
nur traurig und erwiderte, sie
fühle sich in diesem unanständ-
igen Lokal so unbehaglich, und
ich hätte in meinem Benehmen und
Wesen und in meiner Kaltblütig-
keit gegenüber den Frauenzimmern
etwas, das ihr Vertrauen einflösste.
Seit diesem Abend wurde ich
ihr Freund und Beschützer in
diesem „unanständigen Lokal“, wie
sie es mit holder Scham nannte.
Jeden Tag traf sie ihren Bräutigam
in ihrem Hause und mich Abends
im Cafe National; aber der Referen-
dar schien nicht dorthin kommen
zu wollen. Ich war sterblich in
sie verliebt, ehe ich noch die Ge-
fahr ahnte, und fragte sie offen,
ob sie nicht lieber Oberlehrersfrau
7-8
JUGEND
1897
Nachdem ich den schnellauf-
tauchenden Gedanken, die Uhr für
ein liebes Andenken an meinen
verstorbenen Vater auszugeben,
verworfen hatte, überreichte ich sie
ihm mit einer artigen Verbeugung.
Im selben Augenblick flogen die
Flügelthüren auf, eine wunder-
schöne Frau und ein lukullischer
Mittagstisch wurden sichtbar, und
der zuvorkommende Wirth bat
mich, die Bürgermeisterin zu Tisch
zu führen. Beim Dessert tranken
wir Brüderschaft. Er war ein Ge-
nie bis in die Fingerspitzen, ja,
nicht zum wenigsten in diesen.—
Für Geld bekommt man dort
Alles. Einmal, als ich es sehr
eilig hatte, war der Zug, mit dem
ich abfahren sollte, eine halbe
Stunde zu früh zur Station ge-
kommen.
„Fort!“ sagte ich und liess
einige Münzen in die Hand des
Stationsvorstehers fallen, der so-
gleich den Zug abpfiff, ohne die
richtige Zeit abzuwarten.
Als ich in den Waggon einstieg,
wollte eine wunderbar schöne,
majestätische Dame, von der mir
der Hotel-Portier vorher gesagt
hatte, dass sie eine Generalin
aus Kreta sei, sich mit stolzer
Würde in das Damencoupe zurück-
ziehen.
„Bitte sehr!“ flüsterte ich und
steckte ihr einen grösseren Schein
in ihr Händchen. Da setzte sie
sich auf meinen Schooss und liess
sich vier Stunden hintereinander
von mir abküssen.
Schlimmer erging es meinem
Freunde, einem Professor aus
Cambridge, der auch mit Staats-
stipendium reiste. Er schwor, dass
er niemals einem Schaffner einen
Heller Trinkgeld geben würde.
Und was passierte ihm? Einmal
in einem Nachtzuge kam der
Schaffner und koppelte seinen
Wagen los, sodass dieser mitten
auf der Bahnlinie stehen blieb und
von einem Güterzug, der hinterher-
kam, zerschmettert wurde. Die
Professorin bekam nicht einmal
sein Skelett wieder, denn der
nächste Bahnwärter verkaufte den
Leichnam um geringes an zwei
weniger bemittelte Studenten aus
Athen, die fürchterlich handelten.
O, wie die Finanzen in dem
Lande stehen müssen!
Aber bisweilen ist die Bestech-
lichkeit von grösstem Werth für
den Fremden. Die Balkanbewohner
haben nämlich schrecklich heisses
Blut, sodass sie sich durch ein
reines Nichts beleidigt fühlen, und
dann hat man im Handumdrehen
eine Herausforderung auf dem
Hals, ohne dass man weiss, wie
einem geschieht.
Ich bekam sogar zwei, ob-
schon ich mich sehr urban und
freundlich verhielt, wie es ja meine
Gewohnheit ist. Na, das hat noch
Niemand behaupten können, dass
Oberlehrer Schwindelfeld sich
fürchtet; aber es kann zweifelhaft
sein, wie weit ein Stipendiat das
Recht hat, sich abschlachten zu
Zwischenakt Ha"s Flüggen (München).
lassen, bevor er seinen Reise-
bericht abgeliefert hat. Daher
wählte ich auch immer die Pistole
als Waffe und gab den Sekun-
danten „Bakschisch“, damit sie
vorher die Kugeln herausnehmen
sollten-
Oben in Nordeuropa fliesst ja
das Blut ein wenig ruhiger, aber
ein Reisender mit offenem Blick
bekommt doch immer allerhand
zu sehen. So pflegte ich bei
meinem Aufenthalt in Berlin bis-
weilen das Cafe National zu be-
suchen.
Eines Abends nahm daselbst
ein junges Mädchen, das ungewöhn-
lich fein und nett aussah, ihre Cho-
colade, setzte sie auf meinen Tisch
hinüber und nahm neben mirPlatz.
Sie war entzückend hübsch; aber
ich dachte an meine Stellung,
meinen Rector, meine Klasse,
deren Vorstand ich bin, und an
alle Frauen in Krähwinkel und
ihre scharfen Zungen und rückte
ein wenig von ihr fort.
„Ich bin ein anständiges Mäd-
chen, mein Herr,“ flüsterte sie.
„Gestatten Sie mir, das zu be-
zweifeln!“ rief ich.
Aber es wardoch etwas in ihrem
Wesen, was mir so imponirie,
dass ich auf die phantastische Er-
zählung lauschte, die sie mir zum
besten gab. Sie wäre die Tochter
eines Regierungsrathes, hätte sich
kürzlich mit einem jungen Re-
ferendarius verlobt, liebe ihn von
ganzer Seele und glaube, dass sie
in ihm den strengen, sittlich reinen
Mann gefunden hätte, dessen sie
bedürfe, um glücklich zu werden,
denn sie hätte eine solche „Hand-
schuh-“Moral, wie man das nennt,
dass sie absolut dieselbe sittliche
Reinheit bei dem Manne verlange,
wie bei einem besseren Fräulein.
Und nun hätte sie mitten in ihrem
Glück gehört, dass er an Orte,
wie dieser, hinzugehen pflege. Sie
hoffe, es wäre nur Verleumdung;
hätte aber in jedem Fall beschlos-
sen, einen ganzen Monat lang
jeden Abend hierherzugehen, um
zu sehen, ob er herkäme . . .
Dabei zeigte sie mir einen
reizenden kleinen, aber allzuscharf
geschliffenen Dolch unter dem
Tisch.
„Hu, lassen Sie das, Fräulein!“
sagte ich ängstlich; aber sie lachte
nur traurig und erwiderte, sie
fühle sich in diesem unanständ-
igen Lokal so unbehaglich, und
ich hätte in meinem Benehmen und
Wesen und in meiner Kaltblütig-
keit gegenüber den Frauenzimmern
etwas, das ihr Vertrauen einflösste.
Seit diesem Abend wurde ich
ihr Freund und Beschützer in
diesem „unanständigen Lokal“, wie
sie es mit holder Scham nannte.
Jeden Tag traf sie ihren Bräutigam
in ihrem Hause und mich Abends
im Cafe National; aber der Referen-
dar schien nicht dorthin kommen
zu wollen. Ich war sterblich in
sie verliebt, ehe ich noch die Ge-
fahr ahnte, und fragte sie offen,
ob sie nicht lieber Oberlehrersfrau
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