Nr. 43
JUGEND
1897
meine einzige Geliebte!“ Und ich glaubte
ihm. Gott doch, liebe gnädige Frau, Sie
werden es ja selbst wissen, wie einem
einer was Vorreden kann! Man ist auch
nur einmal jung, man kann wirklich nicht
dafür. Nun ging ich mit ihm. Er wollte
nicht, dass ich im Geschäft blieb, er
miethete mir ’ne Wohnung, nah bei der
Kaserne. Tante, bei der ich gewohnt
hatte, schimpfte erst, aber als es mir so
gut ging, sagte sie nichts mehr. Ich war
so vergnügt. Als er sich vor ’nem Jahr
verheirathete, da habe ich wohl geweint,
aber es war nicht so schlimm. Er kam
doch oft Abends und war immer sehr nett
und dann wurde das kleine Mädchen ge-
boren und ich war ganz närrisch vor
Freude!“ Sie athmet tief auf und presst
die verschlungenen Hände ineinander.
Mit vorgebeugtem Oberkörper reckt
sich die junge Frau ihr entgegen: „Weiter
— weiter!“
„Weiter?!“ Die Miene des Mädchens
verfinstert sich plötzlich, den schlanken
Leib schüttelnd, reisst sie die verschlun-
genen Hände auseinander und ballt sie
zu Fäusten. Ihre schwarzen Sammetaugen
werden stechend. „Der Lügner, der Be-
trüger! Seit ’nem halben Jahr hat er ’ne
andere, jetzt weiss ich’s! Drum hat er
sich nichts mehr wissen gemacht und ist
nicht gekommen und ich habe auf ihn
gelauertund gelauert,“— der rauhe Husten
erschüttert sie wieder wie vorher draussen
an der Thür — „erst hat er die Miethe
geschickt und auch sonst Geld, jetzt nicht
einen Sechser mehr. Seit vier Wochen
keinen Ton! Ich habe an ihn geschrieben
— keine Antwort. Wieder geschrieben —
wieder keine Antwort. Das Kleine zahnt
und schreit die ganzen Nächte; ich bin
so herunter, ich weiss selbst nicht recht,
was mir fehlt, ich bin drinnen wie kaput.
Gestatten Sie!“ Sie setzt sich mit ihrem
nassen Regenmantel schwer auf den
nächsten seidengepolsterten Stuhl.
Kein Laut jetzt. Zwei, drei, fünf
Minuten verstreichen; keine der Frauen
spricht. Die rothen Lampenschleier zittern
von der Hitze, man hört ihr ganz leises
Knistern.
Endlich steht die Frau Rittmeister lang-
sam auf, ihre weichen Züge sind hart ge-
worden, gleichsam erstarrt. Sie senkt den
Kopf wie in Scham: „Und was wollen
Sie jetzt, was soll ich thun?“
„Sie — ?“ Die Andere sieht sie ver-
wundert an — „Sie?! Mit Ihnen habe
ich doch gar nichts zu thun, was geht
Sie das alles an? Aber Ihren Mann will
ich sprechen, ich muss ihn sprechen, i?.h
werde ihn sprechen, ich — ich — ich“ —-
sie springt wieder auf wie ein gereiztes
Thier, — „ich will ihm den Standpunkt
klar machen, dem — dem Kerl!“ Zornige
Thränen brechen ihr aus den Augen.
„Denkt er, ich soll verhungern und das
arme Wurm dazu — verhungern?!“
„Verhungern-!“ Gleich einem
Echo kommt es von den Lippen der jungen
Frau, mit einer unglaublichen Bitterkeit
wiederholt sie das Wort: „Verhungern!
Nein, das sollen Sie nicht!“ Sie geht an
ihren Schreibtisch und kramt darin. „Hier“
— es sind mehrere Hundertmarkscheine,
die sie dem Mädchen reicht — „das ist
mein Geburtstagsgeld von Mama.“ Sie
sagt es gleichsam entschuldigend. „Mehr
habe ich jetzt nicht, aber ich will Ihnen
schicken, sobald ich wieder etwas be-
komme, Sie können sich darauf verlas-
sen. Bitte, gehn Sie jetzt und — meinen
Mann“ — zögernd, widerwillig gleiten
ihr diese zwei Worte über die Lippen
— „bitte, sprechen Sie nicht mit meinem
Mann!“
„Das hat ja jetzt auch gar keinen Zweck
mehr. Denken Sie vielleicht, ich will ihn
ausquetschen und von ihm was erpressen?
Nein, gnäd’ge Frau, man hat doch seinen
Stolz; ich will nur nicht verhungern mit
dem Kind, bis ich wieder Stellung gefunden
habe. Wär’ ich nur erst gesund!“ Das
Mädchen hustet krampfhaft, in der Brust
rasselt es dabei. „Aber adieu, gnäd’ge
Frau, ich habe Sie schon zu lange be-
lästigt, ich danke Ihnen viel, vielmals!“
Sie nimmt die Scheine in die linke Hand
und streckt die rechte aus im schäbigen
Glace mit lauter aufgeplatzten Nähten.
„Sie sind sehr gut, gnäd’ge Frau, ich
wünsche Ihnen alles Schöne, möcht’s
Ihnen immer gut gehn! Sie haben ja
auch alles, was das Herz begehrt.“ Wohl-
gefällig glitzern die schwarzen Augen im
Zimmer auf und nieder, dann dreht sie
mit einem Aufleuchten der Blicke die
Scheine hin und her: „Ich kann das aber
eigentlich doch gar nicht von Ihnen an-
nehmen, gnäd’ge Frau, ich nehme Ihnen
ja alles Geld mit!“
Die blonde Frau macht eine abwehrende
Handbewegung, wie: Schon gut, lassen
Sie nur! Sie sieht unsäglich traurig und
müde aus. Sie hört kaum die Dankes-
worte der anderen, sie neigt den Kopf
mechanisch zum Gruss.
Gott sei Dank, jetzt schliesst sich die
Thür, jetzt sind die schwarzen Augen fort!
Draussen verhallende Schritte auf dem
Gang, die Entreethür fällt in’s Schloss.
Wieder allein.
Mit einem wimmernden Laut bricht die
Einsame zusammen, sie kann sich nicht
aufrichten, nicht rühren, nur denken —
denken — — —
Im Schornstein pfeift der Wind, der
Regen trommelt an die Scheiben: „Hu-
huhuh, die Einzige!“ — „Tromtromtrom,
die Einzige!“ —
Mit einem Stöhnen hält sich die junge
Frau die Ohren zu, sie hört es doch, sie
hört es immerfort — „die Einzige, die
Einzige!“
Gchulremimszenz
Von Ludwig Jul da
fls ich noch in die Schule lief,
Da machten mir viel Pein
Die Wörter, die den Genitiv
Regieren im Latein:
Man schwitzt, wenn man sie mundgelenk
Herunterschnurren soll:
Begierig, kundig, eingedenk,
Theilhaftig, mächtig, voll.
Doch als zuletzt mir starr und steif
Die Regel saß im Dhr,
Da sagte man, ich sei nun reif,
Und öffnete das Thor.
(v Freiheit, göttliches Geschenk!
D, wie die Brust mir schwoll:
Begierig, kundig, eingedenk,
Theilhaftig, mächtig, voll!
Begierig auf den neuen Tag
Und kundig meiner Kraft
Und eingedenk, daß jeder Schlag
Des Herzens Wunder schafft,
Theilhaftig eines Glücks, das nie
Zerrinnt in leeren Schein,
Und mächtig durch die Phantasie
Und voll von Lied' und wein.
Die Jahre stogen; es entflog
Der Schleier meines Traums:
Das Leben ward mein Pädagog,
Und statt des Rektarschaums —
Der Selbsterkenntniß flau Getränk
Schlürft' ich mit stillem Groll:
Begierig, kundig, eingedenk,
Theithastig, mächtig, voll.
Begierig auf gesunden Schlaf
Und kundig mancher Roth
Und eingedenk, wie zahm und brav
Die Künste gehn nach Brod,
Theilhaftig einer Würdigkeit,
Die steter Sorgen Jrucht,
Und mächtig durch verwund’nes Leid
Und voll von Zweifelsucht.
was aber thut's? Lin neu Geschlecht
Lernt heute schon Latein
Und übt der Jugend heil'ges Recht,
werd’ idj begraben sein.
Dann ftürmt's mit lustigem Geschwenk
Jns Land hinaus wie toll:
Begierig, kundig eingedenk,
Theilhaftig, mächtig, voll.
„IfnfcM jungen Leute"
II. „Lase"
D. Ej. bestellte ein Laviarbrod, dick ge.
strichen-.
„Dick gestrichen, jawohl — —", sagte der
Kellner lächelnd, wie wenn es ein Scherzwort
wäre, aber diesmal deutete es bloß Intimität an.
Künstler-Naturen können ftd; nickst in
Respekt setzen bei nntergeordneten Personen.
Dieses Axiom mag hier am Platze sein.
_ Man las „Neue Revue", „Freie Bühne",
„Zeit". Liner posirte mit »Echo de Baris-,
Leibblatt, einer mit »Nuova Antologia«. Der
saß ein bischen abseits, um das „Ausland"
zu markiren. Man orientirte sich, plätscherte
Herum in dem gelblich-grauen Literatur-Meere,
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meine einzige Geliebte!“ Und ich glaubte
ihm. Gott doch, liebe gnädige Frau, Sie
werden es ja selbst wissen, wie einem
einer was Vorreden kann! Man ist auch
nur einmal jung, man kann wirklich nicht
dafür. Nun ging ich mit ihm. Er wollte
nicht, dass ich im Geschäft blieb, er
miethete mir ’ne Wohnung, nah bei der
Kaserne. Tante, bei der ich gewohnt
hatte, schimpfte erst, aber als es mir so
gut ging, sagte sie nichts mehr. Ich war
so vergnügt. Als er sich vor ’nem Jahr
verheirathete, da habe ich wohl geweint,
aber es war nicht so schlimm. Er kam
doch oft Abends und war immer sehr nett
und dann wurde das kleine Mädchen ge-
boren und ich war ganz närrisch vor
Freude!“ Sie athmet tief auf und presst
die verschlungenen Hände ineinander.
Mit vorgebeugtem Oberkörper reckt
sich die junge Frau ihr entgegen: „Weiter
— weiter!“
„Weiter?!“ Die Miene des Mädchens
verfinstert sich plötzlich, den schlanken
Leib schüttelnd, reisst sie die verschlun-
genen Hände auseinander und ballt sie
zu Fäusten. Ihre schwarzen Sammetaugen
werden stechend. „Der Lügner, der Be-
trüger! Seit ’nem halben Jahr hat er ’ne
andere, jetzt weiss ich’s! Drum hat er
sich nichts mehr wissen gemacht und ist
nicht gekommen und ich habe auf ihn
gelauertund gelauert,“— der rauhe Husten
erschüttert sie wieder wie vorher draussen
an der Thür — „erst hat er die Miethe
geschickt und auch sonst Geld, jetzt nicht
einen Sechser mehr. Seit vier Wochen
keinen Ton! Ich habe an ihn geschrieben
— keine Antwort. Wieder geschrieben —
wieder keine Antwort. Das Kleine zahnt
und schreit die ganzen Nächte; ich bin
so herunter, ich weiss selbst nicht recht,
was mir fehlt, ich bin drinnen wie kaput.
Gestatten Sie!“ Sie setzt sich mit ihrem
nassen Regenmantel schwer auf den
nächsten seidengepolsterten Stuhl.
Kein Laut jetzt. Zwei, drei, fünf
Minuten verstreichen; keine der Frauen
spricht. Die rothen Lampenschleier zittern
von der Hitze, man hört ihr ganz leises
Knistern.
Endlich steht die Frau Rittmeister lang-
sam auf, ihre weichen Züge sind hart ge-
worden, gleichsam erstarrt. Sie senkt den
Kopf wie in Scham: „Und was wollen
Sie jetzt, was soll ich thun?“
„Sie — ?“ Die Andere sieht sie ver-
wundert an — „Sie?! Mit Ihnen habe
ich doch gar nichts zu thun, was geht
Sie das alles an? Aber Ihren Mann will
ich sprechen, ich muss ihn sprechen, i?.h
werde ihn sprechen, ich — ich — ich“ —-
sie springt wieder auf wie ein gereiztes
Thier, — „ich will ihm den Standpunkt
klar machen, dem — dem Kerl!“ Zornige
Thränen brechen ihr aus den Augen.
„Denkt er, ich soll verhungern und das
arme Wurm dazu — verhungern?!“
„Verhungern-!“ Gleich einem
Echo kommt es von den Lippen der jungen
Frau, mit einer unglaublichen Bitterkeit
wiederholt sie das Wort: „Verhungern!
Nein, das sollen Sie nicht!“ Sie geht an
ihren Schreibtisch und kramt darin. „Hier“
— es sind mehrere Hundertmarkscheine,
die sie dem Mädchen reicht — „das ist
mein Geburtstagsgeld von Mama.“ Sie
sagt es gleichsam entschuldigend. „Mehr
habe ich jetzt nicht, aber ich will Ihnen
schicken, sobald ich wieder etwas be-
komme, Sie können sich darauf verlas-
sen. Bitte, gehn Sie jetzt und — meinen
Mann“ — zögernd, widerwillig gleiten
ihr diese zwei Worte über die Lippen
— „bitte, sprechen Sie nicht mit meinem
Mann!“
„Das hat ja jetzt auch gar keinen Zweck
mehr. Denken Sie vielleicht, ich will ihn
ausquetschen und von ihm was erpressen?
Nein, gnäd’ge Frau, man hat doch seinen
Stolz; ich will nur nicht verhungern mit
dem Kind, bis ich wieder Stellung gefunden
habe. Wär’ ich nur erst gesund!“ Das
Mädchen hustet krampfhaft, in der Brust
rasselt es dabei. „Aber adieu, gnäd’ge
Frau, ich habe Sie schon zu lange be-
lästigt, ich danke Ihnen viel, vielmals!“
Sie nimmt die Scheine in die linke Hand
und streckt die rechte aus im schäbigen
Glace mit lauter aufgeplatzten Nähten.
„Sie sind sehr gut, gnäd’ge Frau, ich
wünsche Ihnen alles Schöne, möcht’s
Ihnen immer gut gehn! Sie haben ja
auch alles, was das Herz begehrt.“ Wohl-
gefällig glitzern die schwarzen Augen im
Zimmer auf und nieder, dann dreht sie
mit einem Aufleuchten der Blicke die
Scheine hin und her: „Ich kann das aber
eigentlich doch gar nicht von Ihnen an-
nehmen, gnäd’ge Frau, ich nehme Ihnen
ja alles Geld mit!“
Die blonde Frau macht eine abwehrende
Handbewegung, wie: Schon gut, lassen
Sie nur! Sie sieht unsäglich traurig und
müde aus. Sie hört kaum die Dankes-
worte der anderen, sie neigt den Kopf
mechanisch zum Gruss.
Gott sei Dank, jetzt schliesst sich die
Thür, jetzt sind die schwarzen Augen fort!
Draussen verhallende Schritte auf dem
Gang, die Entreethür fällt in’s Schloss.
Wieder allein.
Mit einem wimmernden Laut bricht die
Einsame zusammen, sie kann sich nicht
aufrichten, nicht rühren, nur denken —
denken — — —
Im Schornstein pfeift der Wind, der
Regen trommelt an die Scheiben: „Hu-
huhuh, die Einzige!“ — „Tromtromtrom,
die Einzige!“ —
Mit einem Stöhnen hält sich die junge
Frau die Ohren zu, sie hört es doch, sie
hört es immerfort — „die Einzige, die
Einzige!“
Gchulremimszenz
Von Ludwig Jul da
fls ich noch in die Schule lief,
Da machten mir viel Pein
Die Wörter, die den Genitiv
Regieren im Latein:
Man schwitzt, wenn man sie mundgelenk
Herunterschnurren soll:
Begierig, kundig, eingedenk,
Theilhaftig, mächtig, voll.
Doch als zuletzt mir starr und steif
Die Regel saß im Dhr,
Da sagte man, ich sei nun reif,
Und öffnete das Thor.
(v Freiheit, göttliches Geschenk!
D, wie die Brust mir schwoll:
Begierig, kundig, eingedenk,
Theilhaftig, mächtig, voll!
Begierig auf den neuen Tag
Und kundig meiner Kraft
Und eingedenk, daß jeder Schlag
Des Herzens Wunder schafft,
Theilhaftig eines Glücks, das nie
Zerrinnt in leeren Schein,
Und mächtig durch die Phantasie
Und voll von Lied' und wein.
Die Jahre stogen; es entflog
Der Schleier meines Traums:
Das Leben ward mein Pädagog,
Und statt des Rektarschaums —
Der Selbsterkenntniß flau Getränk
Schlürft' ich mit stillem Groll:
Begierig, kundig, eingedenk,
Theithastig, mächtig, voll.
Begierig auf gesunden Schlaf
Und kundig mancher Roth
Und eingedenk, wie zahm und brav
Die Künste gehn nach Brod,
Theilhaftig einer Würdigkeit,
Die steter Sorgen Jrucht,
Und mächtig durch verwund’nes Leid
Und voll von Zweifelsucht.
was aber thut's? Lin neu Geschlecht
Lernt heute schon Latein
Und übt der Jugend heil'ges Recht,
werd’ idj begraben sein.
Dann ftürmt's mit lustigem Geschwenk
Jns Land hinaus wie toll:
Begierig, kundig eingedenk,
Theilhaftig, mächtig, voll.
„IfnfcM jungen Leute"
II. „Lase"
D. Ej. bestellte ein Laviarbrod, dick ge.
strichen-.
„Dick gestrichen, jawohl — —", sagte der
Kellner lächelnd, wie wenn es ein Scherzwort
wäre, aber diesmal deutete es bloß Intimität an.
Künstler-Naturen können ftd; nickst in
Respekt setzen bei nntergeordneten Personen.
Dieses Axiom mag hier am Platze sein.
_ Man las „Neue Revue", „Freie Bühne",
„Zeit". Liner posirte mit »Echo de Baris-,
Leibblatt, einer mit »Nuova Antologia«. Der
saß ein bischen abseits, um das „Ausland"
zu markiren. Man orientirte sich, plätscherte
Herum in dem gelblich-grauen Literatur-Meere,
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