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1897

JUGEND

Nr. 45

Zufall

Von Ludwig Fulda

„Alles Zufall im Leben: alles Zufall," wieder-
holte Oskar, indem er die neue Cigarre austcckte,
die sein Freund ihm aus einem eleganten Etui
angeboten hatte. „Der Zufall ist unser wahres
Verhängniß, unser Schickial, unsere Bestimmung.

Es hat gar keinen Sinn, Pläne zu schmieden;
der Zufall durchkreuzt sic. ES ist absurd, wohl-
überlegte Entscheidungen zu treffen; der Zufall
stülpt sie um. Hätte ich heute zufällig eine andere
Straffe gewählt, um zu Dir zu kommen, so wäre
mir vielleicht ein Dachziegel auf den Kopf ge-
fallen, oder ein Wagen hätte mich überfahren,
oder ich wäre auf einem glatten Stein ansge-
glitten und läge jetzt mit einem komplizirten
Schenkelbruch auf demPflaster. lind wenn Du aus
New-Aork zufällig mit einem anderen Dampfer ab-
gcreist wärest, dann befändest Du Dich jetzt in
Gesellschaft der jüngst Gestrandeten und Ertrun-
kenen auf dem Grunde des Meeres, und ich hätte
meinen alten Theodor nie wieder gesehen."

Theodor füllte lächelnd die grünen Römer,
aus denen sie. soeben den Willkomm getrunken
hatten. „Ein wahres Glück, das; all' diese bösen
Zufälle nicht eingetrcten sind."

„Jawohl, ein glücklicher Zufall — nichts weiter.

Hat »>an einmal ein Auge dafür, so wein man
genau, ivclche riesenhafte Kette glücklicher Zufälle
nöthig ist, damit irgend Etivas ungefähr so ge-
schieht, >vie man cs sich vorher gedacht oder ge-
wünscht oder vorgenommen hat. Das; >vir Beide
nach so langer Trennung in diesem Hotelzimmer
uns leibhaftig niid gcinüthlich gegenübersitzen,
an dieser unwahrscheinlich günstige» Konstellation
haben Hunderte von kleinen Zufällen Mitarbeiten
müssen, und zuletzt noch ein ganz großer.

Theodor lächelte stärker. „Deine Zusallstheorie
in Ehren," sagte er, indem er weltmännisch ge-
lassen zu seinem Fauteuil einen zweiten mit den
Fünen herbei enterte, um letztere darauf zu legen.

„Aber gar so merkwürdig kommt mir das nicht
vor, das; zwei alte Freunde ein Plauderstünd-
chen mit einander haben. Da ich nun einmal
wieder im Lande bin, so erscheint mir das höchst
alltäglich und selbstverständlich, und ich sehe die
Menge von Zufällen nicht, die nach Deiner
Meinung ..."

„Aber ich sehe sie!" siel Oskar ihm in's Wort.

»Ich will gar nicht reden von dem kolossalen Zu-
fall, das; wir Beide noch am Leben sind. Lache
nicht! Die mittlere Lebensdauer beträgt kaum
über dreißig Jahre, und wir Beide nähern uns
den Vierzig; auch fliegen fortwährend Millionen
von todbringenden Bazillen in der Luft herum,
von denen wir aus purem Zufall noch keinen
verschluckt haben. Al)o davon abgesehen: Du
kommst auf eine einzige Woche nach Europa,
tvcil von den vielen hundert Neiv-Uorker Rechts-
anwälten zufällig gerade Du mit dieser juristischen
Mission betraut wirst. Zufällig erhalte ich Deinen
ungenau adressirten Brief; zuerst war er an einen
Namensvetter von mir gegangen, der zufällig
wegen Unterschlagung im Gefängniß
ntzt. Der Gesängnitzdirektor öffnete
den Brief nnd schloß ans dem Inhalt,
da er mich zufällig dem Namen nach
kennt, daß er für mich bestimmt sei.

Zufällig bin ich gerade hier anwesend,
da eine geplante größere Reise sich im
letzte» Augenblick um eine» Monat ver-
schoben bat. Zufällig finde» wir, da
wir Beide sehr beschäftigt sind, eine
Zeit heraus, die uns Beiden gleich gut
Vaht. Zufällig paßt diese Zeit auch
meiner Frau. Ich habe also dieChance,

Dich z» »ns bitten zu können. Tau-
senderlei konnte noch dazwischen kom-
men, was Dich oder mich verhinderte;
zufällig kommt nichts dazwischen. Ich
erwarte Dich demnach bei mir, und meine Frau
erwartet Dich auch. Sie ist mißtrauisch gegen
*?>“), wie gegen alle meine Freunde aus der
Junggesellen,zeit. Sie hätte uns infolgedessen
leinen Augenblick allein gelassen. Nach so vielen
Aunstlgen Zufällen hätten wir uns doch fchließ-
"ch mit einer Entrevue zu Dreien begnügen
Mußen; es wäre mir unmöglich gewesen, Dir , _

?uszuschütten. Da tritt endlich der große, entscheidende Zu-
lall ein: meine Frau bekommt Migräne. Einen Augenblick
läng scheint zwar Alles wieder in Frage gestellt. Ich soll

Dir abschrcibcn, soll ihr Gesellschaft leisten.
Zufällig aber gelingt es mir gerade heute, sie zu
überreden. Sie gibt mir Urlaub — gegen das
feierliche Versprechen, daß ich Punkt acht Uhr
wieder zu Hanse bin. Ich verabschiede mich von
ihr, und zufällig ruft sic mich nicht zurück; aiich
arif die Straße schickt sie mir nicht das Mädchen
nach. Den vielen »och etwa möglichen Hinder-
nissen, die zwischen meiner Wohnung nnd Deinem
Hotel auf mich lauern, entgehe ich wie durch ein
Wunder — und der unwahrscheinlichste von allen
denkbaren Zufällen wird Ereigniß; Wir Beide
sind zusainmeugekommcn, und wir sind allein."

„‘•Wir schwindelt!" rief Theodor. „So verwickelt
Hab' ich mir die Sache wahrhaftig nicht vorge-
stellt."

Er lächelte jetzt nicht mehr. Er hatte den Freund
während seines Vortrages mit theiluehmender
Schürfe beobachtet. Nach einer kurzen Pause
setzte er hinzu: „Nur Eines wird mir immer
klarer: daß Du so über den Zufall denkst, dies
wenigstens ist kein Zufall. Es gab eine Zeit,
wo Du harmloser in's Leben blicktest..."

„A propos, Zeit!" warf Oskar ein nnd sah
ans seine Uhr. „Noch eine halbe Stunde," mur-

melte er dann befriedigt.

„Damals," fuhr Theodor fort, „bewunderte
ich, der Ernste, der Schwerblütige, Deinen an-
genehmen Leichtmnth. Allerdings, zwölf Jahre
sind seitdem verflossen, und die verändern Manches.
Und doch — ein Augenzeuge, der Dir oft be-
gegnet ist, als ich längst drüben in Amerika tvar,
der Dich zuletzt kurz vor Deiner Verheiratung,
also vor kaum sechs Jahren, gesehen hat, behielt
genau denselben Eindruck von Dir."

„Von wem sprichst Du?" fragte Oskar schnell.

„Von Max Werthner."

Oskar zuckte zusammen, als habe er eine
Elcktrisirmaschinc angefaßt. „Werthner! .hast Du
ihn in New-Bvrk getroffen?"

„Selten und flüchtig. Aber wir sind jetzt mit

dein gleichen Schiff nach Europa gefahren."

Oskar sprang auf. „Werthner ist hier?"

„Jawohl. Ich verstehe nur nicht, warum diese
Thaßache so sensationell auf Dich tvirkt."

„Werthner ist hier," wiederholte Oskar halb-
laut, indem er mit großen Schritten das Zimmer
durchmaß. Daun, vor Theodor stehen bleibend,
brummte er mit schlecht gespielter Gleichgiltigkeit:
„Ein riesiger Zufall."

„Was denn?"

„Daß ihr mit dem gleichen Schiffe gereist seid."

„Du lieber Himmel, aus so einem Schiff sind
ein paar Hundert Menschen. Irgend ei» Be-
kanitter mtiß doch wohl drunter sein."

„lind was sagte Werthner von mir?"

„Er schien sich lebhaft für Dich nnd Dein
Wohlergehen zu intcrcssiren."

„So? Wirklich?"

„Er fragte mich, ob ich neuere Nachrichten
von Dir hätte, und was für welche?"

„Was hast Du ihm geantwortet?"

„Nun, Du kannst Dir denken, daß ich ihm
nicht Alles auf die Nase band, was ich aus Deinen
Briefen wußte. Ich sagte einfach, Du hättest mir
von Zeit zu Zeit geschrieben, und immer sehr
fidel."

„Fidel! Haha!" Oskar lachte unheimlich und
ging wieder mit großen Schritte», die Hände
ans den Rücken gelegt, in der Stube umher.

„Werthner schien durch diese Auskunft zu-
friedengestellt. Ich erinnere mich noch des pro-
tegirenden Kopfnickens, mit dem er bemerkte: ,Ja,
ja, fidel — es gibt kein bezeichnenderes Wort für
Oskar Dorn. Was man in Deutschland ei» fideles
Haus nennt.' — Und dabei lachte er jo recht be-
häbig."

„Er hat gut lachen!" schrie Oskar so laut,
daß Theodor einen sichtlichen Schrecken bekam.
„Er hat gut lachen." Oskar schlnß init der Faust
auf den Tisch. „Und wenn ich Dir nun iaae.

>r nun tage,

daß auch hier wieder nur ein elender Zufall un
Spiel ist?"

„Ich verstehe nicht. . ."

„Ein elender Zufall, daß er lachen kann und
nicht ich?"

Theodor hatte sich erhoben. Er drehte, da die
frühe herbstliche Dämmerung fast in völlige Dun-
kelheit übergegangcn war, die elektrische Beleucht-
ung auf; dann legte er dem ungcbcrdigen Freund
begütigend die Hand auf die Schulter. „Warum
kann er lachen und Du nicht? Willst Du mir
das nicht erklären?" Mit sanfter Gewalt drückte
er ihn aus einen Sessel nnd nahm dicht an seiner
Seite Platz.

Oskar seufzte resignirt, trank einen Schluck nnd
seufzte wieder. „Daß meine Ehe nicht glücklich
ist, konntest Du aus meinen Briefen crrathen.
Ich mache meiner Frau keinen Vorwurf daraus,
daß zufällig sie und ich nicht zu einander passen.
Das ist ja für sie gerade so fatal, wie für mich.
Nichts lächerlicher, als wenn zwei Menschen sich
zu kennen glauben, bevor sie miteinander ver-
heiratet sind. Nichts thörichter, als wenn sie sich
den wichtigen Schritt vorher reiflich überlegen.
Es ist genau dasselbe, als wollte man sich den
Kopf zerbrechen, auf welche Nummer der Roulette
man setzen soll."

„Genau dasselbe?" wiederholte Theodor mit
skeptischem Ton.

„Nein, nicht dasselbe! Denn beim Heiraten
ist die Willkür des Zufalls noch unendlich größer.
Die Roulette hat siiufunddrcißig Nummern; aber
in einer großen Stadt gibt es mindestens zehn-
tausend junge Mädchen — ganz zu schweigen
von den Millionen junger Mädchen in allen an-
deren Städten. Zufällig befindet man sich inner-
halb der kritischen Zeit gerade in dieser Stadt;
zufällig lernt man von den zehntausend einige
Dutzend kennen. Wäre man an einem Abend,
auf den man zweimal eingeladcn war,
zufällig statt in die eine m die andere
Gesellschaft gegangen, so hätte man
statt des einen Dutzend ein anderes
Dutzend kennen gelernt rmd hätte
Dic>cnigc aus dein Dutzend, die
einem diesmal besonders gcsicl, nie
im Leben zu Gesicht bekomineu. Und
warum gefiel Einem gerade diese?
Daß ich zum Beispiel Amalie gleich
am Abend unserer Bekanntschaft den
Hof machte, tvar dadurch verursacht,
daß an jenem Tag ihr Vater sich
einen Zahn hatte ziehen lassen."

„Na höre mal," rief Theodor, „für
diesen Zusammenhang verweigere ich
Dir von vornherein den Credit."
„lind trotzdem verhält cs sich so. Mein
nachmaliger Schwiegervater war an jenem
Tag in Folge des gezogenen Zahnes in
miserabler Stimmung. Infolgedessen hatte
er eine Szene mit seiner Frau. Infolgedessen
altcrirte sich die Frau derartig, daß sic un-
fähig war, ihre Tochter auf den Ball zu be-
gleiten. Infolgedessen war in einer sehr
spießigen Gesellschaft Amalie die einzige junge Dame, die ohne
Vallmutter erschien. Infolgedessen phautasirtc ich mir etwas von
früher Selbständigkeit, von interessanter Freiheit der Anschau-
Register
Ludwig Anton Salomon Fulda: Zufall
Ephraim Moses Lilien: Vignette
 
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