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Nr. 46

JUGEND

1897

Mutter Erde

Hans Mutier {Uucuau).

Lin moralisches Dilemma.

ökWe einem neuen Heiland hörte man ihm zu.

Aller Kampf zwischen dem Ich und dem Dn,
das Leiden an der Zweiheit und an der Vielheit
der Dinge, alle Feindseligkeit im Zusammenstoß
entgegengesetzter Krästc war ja nun aufgehoben,
war nichts als der flüchtige Schein an der Ober-
fläche der Welt. Ihr Kern, jenseits von Raum
und Zeit — so lehrte er — ist ungeschicdne Ein-
heit. In der letzten Wurzel ihres Seins, ja, in
.ihrem wirklichen Sein überhaupt hingen alle
Wesen unlösbar zusammen. Nur wie der eine
Lichtstrahl im Prisma in die bunte Vielheit der
Farben auseinandergeht, so zerlegt unser Vor-
stellen jene Einheit der Dinge in die Mannig-
faltigkeit individueller Gestaltung. Aber dieser
Ueberredung des ersten Anblicks brauchen wir
nnS nicht bedingungslos gefangen zu geben;
>vir wissen jetzt, daß sie nur eine Seite der Dinge
ist, nur die menschlich bedingte, in Menschen-
gehirnen .lebende Welt als Vorstellung. Wenn
wir aber ganz sein hinhören, uns zum tiefst-
gelegenen Quellpunkt unseres Ich hinunterfühlen,
da finden wir uns an dem heimlichen Borne,
ans dem alle Wesen fließen, der in allen fließt.
Der unerreichbare Stern oben und der Vogel
mit seinem unverstandenen Lied — das bist
Du! Der Gewalthaber, vor dem Du Dich bückst
und der Arme und Unterworfene, der sich vor Dir
bückt — das bist Du! Das Herz, mit dem die
Leidenschaft Dich so oft in Eins verschmelzen
wollte, um schließlich immer an dem unerbittlichen
Zweisein zu scheitern — in dem dunklen Grund
der Dinge, jenseits des Schleiers der Maja, ist
cs doch nicht nur Dein, sondern ist Du: wie cs
freilich auch vom Fernsten und Fremdesten gilt:
das bist Du.

Nun verstanden wir die Gewissensangst des
Bösewichts, sein inneres Entsetzen über das Leid,
das er Anderen angethan hat: es ist die dumpfe
Ahnung, daß er es sich selbst zugefügt, daß der
Schlag, den er gegen den Andern geführt, sein
eigenes Sein in dessen tiefstem Grunde getroffen,
hat. In der letzten Schicht unseres Ich zittert das
ganze Leiden der Welt nach, aber auch alle Freuden
quellen, durch jene Einheit der Dinge hindurch-,
geleitet, darein über. Damit war nun ein neuer
Boden geschaffen, auf dem die Menschen gegen
einander, für einander handeln konnten. Jener

innere Widerspruch, jene Sinnlosigkeit der Hin-
gabe an den Andern, der Aufopferung des eigenen
Interesses für das seinige — die uns der Ver-
stand so oft quälerisch vorgerückt hatte, war nun
auch vor dieser unerbittlichen Instanz gerecht-
fertigt. Was unser Gefühl — der Bote, den
unser tiefster Wesenskern an unser Bewußtsein
sendet — uns längst gelehrt hatte: daß Geben
seliger ist als Nehmen und daß das Ich nie reiner
und reicher ist, als wenn cs auf sich verzichtet —
das war nun auch begreiflich geworden, seit
wir wissen, daß unsere Thaten auf dem llimueg
über den Anderen uns selbst heimkommen, über
den ewigen Grund des Seins, in dem es keine
Trennung zwischen dem Ich und dem Du gibt.

So schien der Friede auf Erden zum ersten
Mal besiegelt. Denn wer, zu dem die frohe
Botschaft von der All-Einheit der Wesen drang,
hätte noch in Selbstsucht verharren, erstarren
mögen, tvenn alles Leiden, das von ihm aus-
geht, wie ein Revenant zu ihm heimkehrt, während
doch auch alles Gute, das er Anderen thnt, durch
die eine Wurzel alles Seienden auf ihn zurück-
strömt! Wer hätte nicht gut sein mögen, da cs
doch so klug war, gut zu sein!

Dies alles setzte ein Adept der neuen Lehre
dem Freunde auseinander, mit Begeisterung und
zugleich mit Bekümmerniß. Denn es war nicht
zum ersten Mal, daß er dem Heile einen Weg
in den Freund hinein suchte. Und dabei hatte
er das Thor eigentlich nie verschlossen gefunden.
Der Andere hatte nicht nur zugehört und ver-
standen, sondern — das >oar leider kein Zweifel
— sich auch überzeugen lassen. Er hatte bekannt,
daß er den Glauben an das All-Eine, an das
Du-sein des Ich und das Jch-sein deSDm thcile.
Aber die so unvermeidliche Wirkung auf sein
Handeln tvar ausgeblicbcn. Ja,, es schien, als
ob er in noch engerem Kreise als je sich um sich
selbst drehte und als ob ihm Alles, was jenseits
von dessen Peripherie lag, überhaupt nicht mehr in
Sehweite wäre. Die Welt war offenbar nur aus
Kräften und Stoffen gebaut, um ihm Kraft und
Stoff zu persönlichstem Genießen zu liefern, die
Sonne offenbar nur da, um sein Ich zu bc-
scheinen, so daß in dessen Schatten das Du völlig
verschwand. Und tvenn das alles noch auf dem
Grunde der alten individualistischen Weltanschau-
ung geschehen wäre! Dann hätte man doch hoffen
können, ihm einen neuen Glauben und damit
eine neue Liebe zu geben! „Es ist mir unbe-
greiflich", sagte der Freund zu ihm, „lvie Sie mit

dieser Praxis diese Theorie vereinigen können.
Wenn Sic sich nicht nur mit oberflächlicher Selbst-
Überredung, sondern von innen heraus jener
tiefen Einheit der Wesen sicher fühlen, die zwischen
dem Ich und dem Du die Schranke niederreißt
und Lust und Leid des einen im Kerne alles
Seins auch zum Schicksal des andern tverden
läßt — wie ist die Rücksichtslosigkeit möglich,
mit der Sie nur das eigene Glück verfolgen?
Der Mangel an aufopferndem Sinn, den Sie
selbst eingestehen? Die Gleichgiltigkeit gegen Leid
und Freude Ihrer Mitmenschen? Verzeihen Sie,
tvenn ich Ihnen eine Moralpredigt zu halten
scheine. Das ist es nicht, denn gerade an Ihre
Moral kann ich offenbar nicht appellircn, weil
Ihr Leben so offen, einheitlich und sicher ist,
wie nur ein ganz aufrechtes Gewissen eS dirigiren
kann. Ja, eS kommt mir vor, als ob gerade
die neue Lehre dasjenige in Ihrem Handeln,
das man nun einmal Egoismus nennen muß und
das Sie selbst so nennen, noch deutlicher, bewußter,
fast möcht ich sagen: freudiger gemacht hätte. Es
fällt mir, lvie gesagt, nicht ein, Ihnen gegenüber
zu moralisiren; aber dieser Zwist zivische» Ihrem
theoretischen und Ihrem praktischen Mensche» macht
mich an der Kraft meines Glaubens zweifeln."

Der Andere hatte ihm ernst und gedankenvoll
zugehört. Seinen Lippen war jenes fatale Unler-
grund-Lächeln ganz fern geblieben, dnS wir uns
so selten versagen können, wenn wir die sinn-
reichsten Argumente gegen eine Sache hören,
die wir unter allen Umständen, und wie bündige
Theorieen es auch dagegen gäbe, zu thun ent-
schlossen sind.

„Disharmonie zwischen Ueberzeugung und
Handeln?" wiederholte er langsam, nein,
die könnt' ich nicht ertragen. Und sic ist auch
bei mir so lvcnig vorhanden, lvie bei Ihnen.
Gerade lvcil ich an die unbedingte Einheit aller
Wesen glaube, sehe ich gar keinen Grund, mein
Glück für Andere hinzugeben, den» wenn ich cs
empfinde, so ist es nun doch auch das ihre. Wenn
aller Unterschied zivische» dem Ich ucid dem Dn
nur ein flüchtiger Schein ist, der daS Wesen nicht
berührt — so ist alle Aufopferung ein thörichtcr
Umweg zu einem von vorherein erreichten Ziele:
da alles Glück, das Menschen fühlen, in eine
ungeschiedene Einheit znsammenfließt, ist es doch
glcichgiltig, an wessen Namen in der Erschein-
nngswelt das eine und das andere Quantum
sich heftet. Je mehr eignes Glück ich gewinne,
desto mehr gewinne ich damit auch den Andern

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G. S.: Das Gleichgiltigste
Hans Müller: Mutter Erde
 
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