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1897

Nr. 47

„Rabbi," begann der Schüler, „an der Wahr-
heit des Lahes ist nicht zu zweifeln; denn er steht
im Talmud, folglich kann es sich hier nicht darum
handeln, zu beweisen, daß der Ausspruch richtig
ist, sondern nur darum, wieso er richtig ist."

„Sehr gut!" nickte der Rabbi und der Schüler
fuhr fort: „Also Hab' ich mich gefragt, warum
ist er richtig, trotzdem er doch mit manchen That-
sachen des Lebens im Widerspruch zu stehen scheint?
Hunde, welche bellen, beißen nicht! Aber mein
Großvater selig ist doch an dem Biß eines tollen
Hundes gestorben, eines tollen Hundes, welcher

sogar sehr laut bellte! Galt etwa in diesem Zall
der Biß nicht, weil der Hund ja kein normaler,
sondern ein toller Hund war? Doch nein: der
Talmud redet ja von Hunden im Allgemeinen,
also auch von tollen. Ferner steht fest, daß auch
schon von Hunden, welche bellten und nicht toll
waren, Menschen gcbiffcn wurden, sei es in's Bein,
sei es in den Arm oder sonst in irgend einen andern
Theil des Körpers, wieso hat also der Talmud
dennoch recht? Run cs könnte jemand kommen
und sagen: ,Der Talmud hat deshalb recht, weil
ein Hund, welcher bellt, nicht beißen kann, sondern

entweder beißt er vor oder nach dem Dellen, wenn
er nämlich überhaupt beißt.' — Indessen, ich meine,
so einfach liegt die Sache nicht. Ich denke viel-
mehr, die Sache liegt so: Damals als die Weisheiten
des Talmuds ausgezeichnet wurden, werden die
Hunde, welche bellten, thatsächlich nicht gebissen
haben. Mittlerweile ist vieles anders geworden
unter den Menschen wie unter den Thieren; folg-
lich auch unter den Hunden, so daß der Ausspruch,
wenn er vielleicht auch für die heutige Zeit nicht
mehr ganz zutrifft, dennoch historisch wahr und
unanfechtbar bleibt."

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Rudolf Wilke: Witzzeichnung
 
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