Nr. 47
JUGEND
1897
"Der Jüngling hatte geendet. Seine Mitschüler
staunten ihn glotzend an. Nie wären sie von selbst
auf eine so scharfsinnige Deutung gekommen. Als
sich ihre Verwunderung ein wenig gelegt hatte,
schaute sich der Nabbi ernst und feierlich im Kreise
um, dann schüttelte er dreimal heftig das weise
Haupt, so daß ihm die frommen, von keinem Scheer-
mesfer je berührten Schläfenlocken und der lange
Bart nur so hin- und hersiogen. Darauf rief er
in mühsam verhaltenem Unmuth:
„was Du da red'st, ist unerhört. Weh thut
es mir, in der Seele weh, Dich von dem pietät-
losen Geiste der modernen Wissenschaft angekränkelt
zu sehen, welche an den Jahrtausende alten Wahr-
heiten unserer Väter mit frevelnder Hand zu rütteln
wagt. — was im Talmud steht, das ist wahr,
das ist immer wahr gewesen, und wird immer wahr
sein. D'rum, wenn geschrieben steht: „Hunde,
welche bellen, beißen nicht", so heißt das nicht
nur: ,Hunde, welche bellten, bissen nicht', sondern
auch: ,Hunde, welche bellen, beißen nicht' und
.Hunde, welche bellen werden, werden nicht beißen'.
Also geh' in Dich, mein Sohn, und lerne dieses
aus meinem Munde: — Lwig in Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sind die Wahrheiten des
Talmud."
Und da sich nun begreiflicherweise Niemand
mehr zum Worte meldete, fing der Nabbi selbst an,
zu erklären.
Lr zählte der Neihe nach auf all' die Ansichten,
welche alle Nabbiner bis zur Zeit über diesen Satz
geäußert hatten. Und er wies nach, wieso und
warum jeder einzelne von ihnen recht gehabt hätte
mit seinem Kommentar, wie er aber damit fertig
war, begann er zu beweisen haarscharf und mit
Aufwand von gelehrter Logik, wieso und warum
andererseits wiederum auch ein jeder von ihnen un-
recht gehabt habe mit seiner Liegest. Als er nun
zu dem letzten seiner Vorgänger gekommen war,
dem Nabbi Elias den Lham, da gewahrte er und
mit ihm unter Schrecken die Schaar der Schüler,
daß der Unterricht bereits zehn und dreiviertel
Stunden gedauert hatte. Lr sprach: „Ich sehe, ich
habe mich etwas verweilt heute. Hier will ich
für diesmal schließen, um Luch morgen meine
Deutung zu sagen, welche mit Gottes Hilfe die
richtige sein wird."
Sie brachen auf, der Nabbi und seine Schüler,
um sich ein jeder nach seiner Wohnung zu begeben.
Doch kaum waren sie aus der „Schul"' heraus-
getreten, da kam ihnen, laut bellend, in mächtigen
Sätzen ein großer Fleischerhund entgegengesprungen.
„Zauve qm peut!“ rief mit angsterfüllter Stimme
der Nabbi und rannte davon, hinterdrein die lern-
begierigen Jünglingen ihre langen Kaftans und
ihre frommen Schläfenlocken wehten im Winde.
Als sie nach geraumer Zeit sich schließlich in Sicher-
heit wähnten, machten sie Halt an einer Straßenecke.
„Nabbi", fragte der Schüler, der vorhin die
getadelte Antwort gegeben hatte, „Nabbi, es steht
doch geschrieben: ,Hunde, welche bellen, beißen
nicht?' Sind wir nicht alle davongelaufen und Du
voran, aus Furcht, gebissen zu werden von einem
bellenden Hunde?"
Da sagte der Nabbi noch athemlos und zittern-
den Mundes: „Wahrlich, Du Narr, wenn ich nicht
so erschrocken noch wäre, ich müßte lachen über
Deine thörichte Frage. Wohl weiß ich, was im
Talmud steht und ihr alle wißt es: .Hunde, welche
bellen, beißen nicht.' Und wahr ist, was da ge-
schrieben steht, ist immer wahr gewesen und wird
immer wahr sein. Ich weiß cs und ihr wißt es
alle, aber Du Schaute, weiß ich denn, ob auch
der Hund weiß, was geschrieben steht wahrhaftig
immerdar im Talmud?"
Da neigten sich die Schüler ehrfurchtsvoll den
Worten des klugen Nabbi und sie gingen ausein-
ander noch überzeugter als zuvor, daß ihm Nie-
mand gleichkäme an Weisheit, weder in Galizien,
noch sonstwo auf Erden. tot„ar
Hans Eichrodt (Karlsruhe).
i£in Vorschlag zur Güte
ln Spanien hat kürzlich ein hoher Ge stlicher
einen Finanzminister ercommunicirt, weil
dieser die Staatsautorität gegen ihn geltend ge-
macht hatte. Mit solchen riesigen Machtmitteln
wie ein solcher Geistlicher kann ja nicht Jeder auf
den plan treten; denn nicht Jeder kann über kirch-
liche und göttliche Wohlthaten verfügen. Aber
würde cs nicht vielleicht den Frieden in der ge-
summten Welt ganz außerordentlich fördern, wenn
die betroffenen weltlichen Mächte mit höchst welt-
lichen Lrcommunicationen antworteten, wenn z. B.
alle Finanzleule in dergleichen Fällen den betreffen-
den Seelenhirten vom Genuß der finanziellen wohl-
Ihaten ausschlößen? Wenn die geistlichen Herren die
freie Wissenschaft und ihre Vertreter mit dem Bann
belegen und mit Haß verfolgen, wäre es dann nicht
geradezu als ein Entgegenkommen zu bezeichnen,
wenn die hochwürdigen Herren vom Genuß alles
dessen ercommunicirt würden, was die von ihnen ja
doch verachtete Wissenschaft der Menschheit gegeben
hat, z. B. vom Gebrauch der Lis nbahn, des Tele-
graphen, des Buchdrucks, der ärztlichen Kunst etc.?
Gewiß: das alles ist ja gar nichts gegen die kirch-
lichen Wohlthaten; aber die geistlichen Herren des
Gottrswortes würden es bei dieser gegenseitigen Lr-
communikation doch nicht halb so lange aushalten,
wie die Diener der Wissenschaft, und das wäre für
den Frieden auf Erden von unbeschreiblichem Nutzen.
— Das ist nur so ein Vorschlag von mir; vielleicht
gibt's noch bessere. Los.
&
Lustige Nachrichten
In einer großen norddeutschen Stadt war
am 2. September ds. Js. auf dem Theater-
zettel zu lesen:
Heute:
Zur Feier des Sedantages.
Bei festlich beleuchtetem Hause:
Die «Einberufung
(Le Sursis)
Schwank in 3 Akten
von Sylvane und Gascogne.
Die „Jugend" hat den Direktor des Theaters
sofort eingeladen, eine Satire über das deutsche
Theater von heute zu schreiben.
Für eine Versammlung von Frauenrechtler-
innen war kürzlich die Tagesordnung augezeigt:
Vortrag von Fräulein von X.:
Unsere Rinder.
Wir möchten die nächste Landrhuter Ratho-
likeuversammlung auf die bedenklichen Fort-
schritte der Frauenbewegung nachdrücklichst
aufmerksam machen.
rleSerschungskttnste
Non multum carmen honoris habet.
(Ein Gedicht bringt nicht viel Honorar ein.
r '
Litterae expressae. — Lin (Erpreßbrief.
* -
Cato annos quinque et octoginta natus e vita
discessit.
Der Rater stirbt, wenn er fünfundachtzig
Jahre lang geboren hat.
Amicus populi Roniani.
<£itt Freund von populären Romanen.
So:»
JUGEND
1897
"Der Jüngling hatte geendet. Seine Mitschüler
staunten ihn glotzend an. Nie wären sie von selbst
auf eine so scharfsinnige Deutung gekommen. Als
sich ihre Verwunderung ein wenig gelegt hatte,
schaute sich der Nabbi ernst und feierlich im Kreise
um, dann schüttelte er dreimal heftig das weise
Haupt, so daß ihm die frommen, von keinem Scheer-
mesfer je berührten Schläfenlocken und der lange
Bart nur so hin- und hersiogen. Darauf rief er
in mühsam verhaltenem Unmuth:
„was Du da red'st, ist unerhört. Weh thut
es mir, in der Seele weh, Dich von dem pietät-
losen Geiste der modernen Wissenschaft angekränkelt
zu sehen, welche an den Jahrtausende alten Wahr-
heiten unserer Väter mit frevelnder Hand zu rütteln
wagt. — was im Talmud steht, das ist wahr,
das ist immer wahr gewesen, und wird immer wahr
sein. D'rum, wenn geschrieben steht: „Hunde,
welche bellen, beißen nicht", so heißt das nicht
nur: ,Hunde, welche bellten, bissen nicht', sondern
auch: ,Hunde, welche bellen, beißen nicht' und
.Hunde, welche bellen werden, werden nicht beißen'.
Also geh' in Dich, mein Sohn, und lerne dieses
aus meinem Munde: — Lwig in Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sind die Wahrheiten des
Talmud."
Und da sich nun begreiflicherweise Niemand
mehr zum Worte meldete, fing der Nabbi selbst an,
zu erklären.
Lr zählte der Neihe nach auf all' die Ansichten,
welche alle Nabbiner bis zur Zeit über diesen Satz
geäußert hatten. Und er wies nach, wieso und
warum jeder einzelne von ihnen recht gehabt hätte
mit seinem Kommentar, wie er aber damit fertig
war, begann er zu beweisen haarscharf und mit
Aufwand von gelehrter Logik, wieso und warum
andererseits wiederum auch ein jeder von ihnen un-
recht gehabt habe mit seiner Liegest. Als er nun
zu dem letzten seiner Vorgänger gekommen war,
dem Nabbi Elias den Lham, da gewahrte er und
mit ihm unter Schrecken die Schaar der Schüler,
daß der Unterricht bereits zehn und dreiviertel
Stunden gedauert hatte. Lr sprach: „Ich sehe, ich
habe mich etwas verweilt heute. Hier will ich
für diesmal schließen, um Luch morgen meine
Deutung zu sagen, welche mit Gottes Hilfe die
richtige sein wird."
Sie brachen auf, der Nabbi und seine Schüler,
um sich ein jeder nach seiner Wohnung zu begeben.
Doch kaum waren sie aus der „Schul"' heraus-
getreten, da kam ihnen, laut bellend, in mächtigen
Sätzen ein großer Fleischerhund entgegengesprungen.
„Zauve qm peut!“ rief mit angsterfüllter Stimme
der Nabbi und rannte davon, hinterdrein die lern-
begierigen Jünglingen ihre langen Kaftans und
ihre frommen Schläfenlocken wehten im Winde.
Als sie nach geraumer Zeit sich schließlich in Sicher-
heit wähnten, machten sie Halt an einer Straßenecke.
„Nabbi", fragte der Schüler, der vorhin die
getadelte Antwort gegeben hatte, „Nabbi, es steht
doch geschrieben: ,Hunde, welche bellen, beißen
nicht?' Sind wir nicht alle davongelaufen und Du
voran, aus Furcht, gebissen zu werden von einem
bellenden Hunde?"
Da sagte der Nabbi noch athemlos und zittern-
den Mundes: „Wahrlich, Du Narr, wenn ich nicht
so erschrocken noch wäre, ich müßte lachen über
Deine thörichte Frage. Wohl weiß ich, was im
Talmud steht und ihr alle wißt es: .Hunde, welche
bellen, beißen nicht.' Und wahr ist, was da ge-
schrieben steht, ist immer wahr gewesen und wird
immer wahr sein. Ich weiß cs und ihr wißt es
alle, aber Du Schaute, weiß ich denn, ob auch
der Hund weiß, was geschrieben steht wahrhaftig
immerdar im Talmud?"
Da neigten sich die Schüler ehrfurchtsvoll den
Worten des klugen Nabbi und sie gingen ausein-
ander noch überzeugter als zuvor, daß ihm Nie-
mand gleichkäme an Weisheit, weder in Galizien,
noch sonstwo auf Erden. tot„ar
Hans Eichrodt (Karlsruhe).
i£in Vorschlag zur Güte
ln Spanien hat kürzlich ein hoher Ge stlicher
einen Finanzminister ercommunicirt, weil
dieser die Staatsautorität gegen ihn geltend ge-
macht hatte. Mit solchen riesigen Machtmitteln
wie ein solcher Geistlicher kann ja nicht Jeder auf
den plan treten; denn nicht Jeder kann über kirch-
liche und göttliche Wohlthaten verfügen. Aber
würde cs nicht vielleicht den Frieden in der ge-
summten Welt ganz außerordentlich fördern, wenn
die betroffenen weltlichen Mächte mit höchst welt-
lichen Lrcommunicationen antworteten, wenn z. B.
alle Finanzleule in dergleichen Fällen den betreffen-
den Seelenhirten vom Genuß der finanziellen wohl-
Ihaten ausschlößen? Wenn die geistlichen Herren die
freie Wissenschaft und ihre Vertreter mit dem Bann
belegen und mit Haß verfolgen, wäre es dann nicht
geradezu als ein Entgegenkommen zu bezeichnen,
wenn die hochwürdigen Herren vom Genuß alles
dessen ercommunicirt würden, was die von ihnen ja
doch verachtete Wissenschaft der Menschheit gegeben
hat, z. B. vom Gebrauch der Lis nbahn, des Tele-
graphen, des Buchdrucks, der ärztlichen Kunst etc.?
Gewiß: das alles ist ja gar nichts gegen die kirch-
lichen Wohlthaten; aber die geistlichen Herren des
Gottrswortes würden es bei dieser gegenseitigen Lr-
communikation doch nicht halb so lange aushalten,
wie die Diener der Wissenschaft, und das wäre für
den Frieden auf Erden von unbeschreiblichem Nutzen.
— Das ist nur so ein Vorschlag von mir; vielleicht
gibt's noch bessere. Los.
&
Lustige Nachrichten
In einer großen norddeutschen Stadt war
am 2. September ds. Js. auf dem Theater-
zettel zu lesen:
Heute:
Zur Feier des Sedantages.
Bei festlich beleuchtetem Hause:
Die «Einberufung
(Le Sursis)
Schwank in 3 Akten
von Sylvane und Gascogne.
Die „Jugend" hat den Direktor des Theaters
sofort eingeladen, eine Satire über das deutsche
Theater von heute zu schreiben.
Für eine Versammlung von Frauenrechtler-
innen war kürzlich die Tagesordnung augezeigt:
Vortrag von Fräulein von X.:
Unsere Rinder.
Wir möchten die nächste Landrhuter Ratho-
likeuversammlung auf die bedenklichen Fort-
schritte der Frauenbewegung nachdrücklichst
aufmerksam machen.
rleSerschungskttnste
Non multum carmen honoris habet.
(Ein Gedicht bringt nicht viel Honorar ein.
r '
Litterae expressae. — Lin (Erpreßbrief.
* -
Cato annos quinque et octoginta natus e vita
discessit.
Der Rater stirbt, wenn er fünfundachtzig
Jahre lang geboren hat.
Amicus populi Roniani.
<£itt Freund von populären Romanen.
So:»