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Nr. 49

JUGEND

1897

von Leo Tolstoj.

n einem reichen Hause waren Gäste ver-
sammelt; cs entspann sich unter ihnen
ein ernstes Gespräch über das Leben.

Man sprach über 2lbwcsc»dc und An-
wesende, konnte aber keinen einzigen Men-
schen nennen, den sein Leben befriedigte;
kein einziger von 2lllen konnte sich glücklich
preisen, Reiner konnte sage», daß er so lebe,
wie ein Christ leben soll. 2llle gestanden,
daß sic ein weltliches Leben führen, daß sic
nur für sich und ihre Familie sorgen, daß
Reiner an seinen Nächsten und noch viel
weniger an Gott denkt.

„Aber weshalb leben wir denn so?" rief
ein Jüngling, „weshalb thun wir das, was
wir selbst nicht billigen? Stchr cs uns denn
nicht frei, unser Leben zu ändern? wir
sind überzeugt, daß unser Lupus, unsere
Verzärtelung, unser Ncichrhum, hauptsäch-
lich aber unser Hochmuth und unsere Ab-
sondcrung von den Brüdern uns zu Grunde
richten. Um vornehm und reich zu sein, müssen
wir 2lllcm entsagen, was dem menschlichen
Leben wahre Freude gewährt: wir drängen
uns in den Städten zusammen, fröhncn
unseren Lüsten, zerstören unsere Gesundheit,
sterben, trotz aller unserer Vergnügungen,
vor Langeweile, bedauern aber, daß unser
Leben nicht so ist, wie cs sein müßte, wes-
halb leben wir denn so, warum verderben
wir denn unser Leben und alles Gute, das
uns Gott gegeben hat? Ich will nicht länger
so leben, will das Lernen aufgcbcn, denn cs
führt doch nur zu diesem Leben voller Cöual,
das wir Alle beklagen. Ich will meinem Bc-
sitzthum entsagen und ins Dorf ziehen, um
mit den Armen zu leben und zu schaffen;
ich will lernen mir meinen Händen zu ar-
beiten, und wenn die Armen meine Rcnnt-
nissc brauchen, will ich sic mit ihnen rhcilcn,
aber nicht, indem ich ihnen Bücher gebe und
Schulen gründe, sondern dadurch, daß ich wie
ein Bruder mit ihnen lebe. Ja, das ist mein
fester Entschluß," — sagte er und blickte
fragend seinen Vater an, der zugegen war.

„Dein Wunsch ist zwar gut," sagte der
Vater, „aber leichtsinnig und unüberlegt,
weil Du das Leben noch nicht kennst, glaubst
Du, daß das alles so leicht ist. Manches
scheint uns gut, die Hauptsache ist aber, daß
das Vollbringen des Guten sehr schwierig
und undurchführbar sein kann. Sogar auf
gebahnten wegen ist cs oft recht schwer,

vorwärts zu kommen, weit schwerer aber
ist cs, neue Wege zu bahnen. Nur ganz
reife lNcnschcn, die alles, was erreichbar ist,
besitzen, sind im Stande, neue Wege zu
bahne»; die neuen Lebenswege scheinen Dir
nur deshalb so leicht zu sein, weil Du das
Leben noch nicht kennst. 2lllcs das ist nur
Leichtsinn und jugendliche Anmaßung, wir
Alten sind dazu da, um Euren Eifer zu
mäßigen, um Euch mit unserer Erfahrung
zu leiten; Ihr Junge» müßt uns gehorchen,
um aus unfern Erfahrungen Nutzen zu
ziehen. Dein selbständiges Handeln beginnt
erst später, jetzt wächst Du noch und ent-
wickelst Dich. Erst mußt Du Dich erziehen,
Dich vollends formen, Dich auf eigene
Füße stelle», Dir feste Grundsätze bilden
und erst dann, wenn Du Dich kräftig genug
fühlst, kannst Du ein neues Lebe» beginnen.
Jetzt aber mußt Du denen gehorchen, die
Dich um Deines eigenen Heils willen leiten,
nicht aber selbständige, neue Lebcnspfade
cinschlagcn wollen."

Der Jüngling schwieg und die älteren
Leute stimmten dem, was der Vater gesagt
hatte, bei.

„Sie haben Recht," wandte sich nun ein
vcrhcirathctcr Mann in mittleren Jahren
an den Vater des Jünglings, „cs ist richtig,
daß ein noch unerfahrener junger Mann,
der neue Lebcnspfade aufsuchcn will, sich
leicht verirrt, er kann noch kein reifes Ur-
thcil haben; aber damit stimmen wir doch
überein, daß unser Leben nicht so beschaffen
ist, wie cs unser Gewissen verlangt und
ebenso auch, daß dieses Leben uns nicht
glücklich macht und nicht befriedigt. Es ist
daher nicht zu leugnen, daß der Wunsch,
eine solche Lebensweise zu verlassen, berech-
tigt ist. Ein Jüngling kann meinen, daß
sein Wahn ein Produkt seiner Vernunft
sei; ich aber bi» kein Jüngling mehr und
möchte Ihnen daher meine Ansicht sagen.
Das heutige Gespräch erweckt in mir den
nämlichen Gedanken. Das Leben, welches

$ G. E. Dodgc.

G. E. Dodge Dachau).

ich führe, kann offenbar weder mein Ge-
wissen beruhigen, noch kan» cs mich beglü-
cken. Sowohl die Erfahrung, wie auch die
Vernunft bezeugen mir das. weshalb sollte
ich also noch warten? Ich plage mich vom
frühen Morgen bis zum späte» 2lbc»d für
meine Familie und das Resultat ist, daß
wir Alle, meine Familie und ich, nicht dem
willen Gorrcs gemäß leben; wir versinken
immer tiefer in Sünden. Man arbeitet für
seine Familie und diese hat keinen Nutzen
davon, den» das, was man für sie thur,
dient nicht zu ihrem Heil. Ich denke daher
häufig, ob cs nicht besser wäre, wenn ich mein
ganzes Leben änderte und das thätc, was
der junge Mann sagt; wenn ich aufhörcn
würde für Frau und Rinder zu sorgen und
nur »och an mein Seelenheil dächte. Sagte
doch schon der 2lpostcl Paulus: welcher
freiet, sorget wie er dem Weibe gefalle;
wer aber ledig ist, der sorget, wie er dem
Herrn gefalle."

Der vcrhcirathctc Mann hatte kaum ge-
endet, da fielen alle Ehefrauen, auch seine
eigene, über ihn her.

„Daran hättest Du früher denken sollen,"
sagte eine Matrone, — „wer sich in's Joch
spannt, muß ziehen. Da könnte Jeder, dem
cs schwer fällt, seine Familie zu erhalten,
kommen und sagen, ich will an mein Seelen-
heil denken. Das ist Betrug und Gemein-
heit. Nein, der Mensch muß auch in seiner
Familie so leben können, wie cs Gott ge-
fällt. Sich absondcrn, um seine Seele zu
retten, das ist leicht; aber die Hauptsache
ist, daß man auf diese weise gegen das
Gebot Christi handelt. Gorr befiehlt uns,
unsere Nächste» zu lieben, Ihr aber wollt,
um Gottes willen, Eure Nächsten kränken!
Nein, Eheleute haben ihre bestimmten Pflich-
ten, die sic nicht vernachlässigen dürfen.
Sind die Familicnglicder erst selbständig,
dann kann der Mann thun, was ihm be-
liebt. 2lbcr Niemand darf sich das Recht
anmaßen, seine Familie in» Stich zu lassen."

Der Ehemann war damit nicht einver-
standen. Er sagte: „Ich will meine Familie
auch nicht verlassen; ich meine nur, man
solle die Rinder nicht weltlich, nicht so er-
ziehen, daß sic, wie wir vorhin bemerkten,
nur an ihre Sinncnlust denken; sonder»
daß man sic anlcitcn müsse, sich frühzeitig
an Noch und 2lrbcit zu gewöhnen, ihren
Nächste» zu helfen, hauptsächlich aber mit
2lllcn brüderlich zu leben. Um das zu
können, muß man aber der Vsrnchmthuerci
und dem Rcichrhum entsagen."

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Register
George Ernest Dodge: Zierleiste
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi: Müßiges Gerede
George Ernest Dodge: Medaillon
 
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