1897
JUGEND
Nr. 49
JVallher Caspari (München).
tag. — Nun, gleichgiltig, mein lieber Freund,
Sie fahren um 9 Uhr mit dem NovitätenschifF
nach Deutschland.“
Bis zur Abfahrt bleiben Sie mein Gast. Sie
werden in meinem Salon alle Grössen unseres
Landes versammelt finden. Ich selbst werde
Sie mit jedem bekannt machen. Sie sollen
einen glänzenden Eindruck mit nach Hause
nehmen, wenn Sie es nicht“ — und er lächelte
verbindlich — „vorziehen sollten, bei uns zu
bleiben.“
„Nein, nein,“ wehrte der Fremde ab, „ich
eigne mich zum Künstler absolut nicht; ich
bin ja . . . .“
„Ich weiss, was Sie sagen wollen. Sie wollen
einwenden, Sie seien ein anständiger Mensch.
Aber auch das macht nichts. Es werden auch
ganz anständige Menschen zu Künstlern: Sie
ändern sich eben.“
Und Arm in Arm traten sie in diesen glän-
zenden Salon der Kunst, wo sich die Besten
auf ihren Gebieten allwöchentlich einmal ganz
unter sich langweilten und ärgerten. Da sassen
sie beisammen, die gefeierten Lieblinge des
Publicums, und tranken Cafö und Absinth und
waren geistreich, wenn sie nicht bereits auf
jener Höhe der Kunst standen, wo man das
nicht mehr ist.
„Sehen Sie diese Dame,“ sagte Wolfhart
Wolf zu seinem Gaste, indem er auf eine reich
gekleidete Frau hinwies, mit einer blendenden
Gestalt und einem verwelkten Gesichte: „Sie
ist aus Ihrer Vaterstadt Berlin. Sie war schon
ein paar Jahre verheiratet mit einem kleinen
Beamten, der sie sehr geliebt haben soll, als
sie eines Tages ihr Talent entdeckte. Ein junger,
sehr begabter Liebhaber machte sie darauf auf-
merksam. Sie riss sich mit blutendem Herzen
von ihrem Gatten los . . .“
„Das heisst, sie ging mit dem Comödianten
durch — sagt man in Berlin.“
„Wie Sie wollen: Sie hat eine hervorragende
Begabung. Insbesondere das Dirnenhafte in
manchen modernen Rollen weiss sie in einer
Weise zu verkörpern. Aber sehen Sie
dort den würdigen Herrn, mit den müden halb-
geschlossenen Augen?“
„Jawohl! Der jetzt eben gähnt?“
„Ja. Das ist der geistreichste Mann im
Land. Beobachten Sie ihn. Sie werden ihn
den Mund nicht öffnen sehen. Er verwirft sich
nicht; er gibt sich nicht aus. Seine Frau ist
der Melancholie nahe, so unausstehlich lang-
weilig und mürrisch ist er zu Hause. Aber
lesen Sie einmal eine Geschichte aus seiner
Feder, wenn er hie und da — alle 6 Monate
etwa — eine schreibt: Sie werden überrascht
sein von diesem feinen Geist.“
Der Gast warf einen sehnsüchtigen Blick
auf die Standuhr in Barock. Es war >/-8 Uhr.
Dieser geistreiche Mann war ja vielleicht eine
sehr interessante Persönlichkeit, aber er dachte
an seine kleine Frau und seine zwei süssen
Kinder dort drüben im Lande der Philister, die
nicht wissen würden, wo er bliebe. — Und so
fühlte er sich allgemach sehr unbehaglich und
sogar ein wenig zornig unter all’ diesen be-
rühmten Leuten, deren Verrücktheiten ihn doch
eigentlich gar nichts angingen.
Aber Wolfhart Wolf führte ihn weiter und
erläuterte ihm die Individualität eines jeden
seiner Gäste. Plötzlich machte er ihn auf einen
söhr schönen, geckenhaft gekleideten jungen
Mann aufmerksam, in einem Kreise bewundern-
der Damen.
„Wenn Sie länger bei uns wären,“ sagte der
Präsident „könnten Sie beobachten, dass dieser
reichbegabte junge Mann nie an zwei Tagen
im Monat dieselbe Cravatte trägt. Aber jede
Halsbinde, die er anlegt, ist ein Kunstwerk an
Farbe, Form und Colorit. Man kann sagen, er
habe die Cravatte, die bei uns bis vor kurzem
im Argen lag, künstlerisch ausgestaltet. Er soll
Unsummen ausgeben für seine Toilette. Aller-
dings ist es nicht sein Geld, sondern das seiner
Frau. Es ist dies eine Schwäche, ich gebe es
zu, aber bedeutende Menschen haben eben
solche Schwächen.“
„Und auf welchem Kunstgebiete ist der junge
Mann sonst noch thätig?“
, Wie so viele hochbegabte Naturen hat er
sich noch nicht für ein bestimmtes Kunstgebiet
entschieden. Er hat sich in der realistischen
Novelle versucht, aber ich muthmasse, dass er
zur Malerei hinneigt.“
Einem oder dem andern stellte der Präsident
seinen Gast auch vor. Sie alle waren anfäng-
lich sehr liebenswürdig, solange sie von sich
und ihren Werken sprachen. Wenn aber dann
der anständige Mensch sie bescheiden darauf
aufmerksam machte, dass er eigentlich Ma-
schineningenieur sei und der Kunst ziemlich
ferne stehe, wurden sie plötzlich beleidigend
kühl, bis auf einmal jenes verächtlich ironische
Lächeln auf ihren Lippen erschien, das der
Fremde zum erstenmal an Wolfhart Wolfs Haus-
knecht beobachtet hatte.
Und als die grosse Standuhr 8 schlug, da
wusste diese ganze Gesellschaft, dass der Ein-
dringling ein Mensch sei ohne jedes Talent.
Von diesem Augenblicke an war er Luft.
Aber in der Brust des anständigen Menschen
begann mit einemmale das verwundete Selbst-
gefühl sich zu regen. Er wusste ja ganz gut,
dass ihm die 100 Namen der Berühmtheiten
des letzten Quartals so fremd waren, wie deren
Eigenart. Aber durfte deshalb dieses verluderte
Künstlergesindel hier mit Verachtung auf ihn
herabschauen?! Er hatte nie ein Aphorisma
geprägt, niemals das kleinste Lied componiert,
er hatte nie auf einer Liebhaberbühne agirt
und nie eine allegorische Zeichnung entworfen;
aber von Kindheit an hatte er gearbeitet, ge-
dacht und gelernt, und mit seines Kopfes Ar-
beit ernährte er Weib und Kind; auch hatte
er dort drüben im Lande der Dutzendmenschen,
eine neue sinnreiche Art der elektrischen Wei-
chenstellung erfunden, die in Eisenbahnkreisen
bedeutendes Aufsehen erregte. Und kurzum,
er sah gar nicht ein, warum dieser Hausknecht
ironisch auf ihn herablächeln durfte, wenn er
auch ein Theaterkritiker war.
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JUGEND
Nr. 49
JVallher Caspari (München).
tag. — Nun, gleichgiltig, mein lieber Freund,
Sie fahren um 9 Uhr mit dem NovitätenschifF
nach Deutschland.“
Bis zur Abfahrt bleiben Sie mein Gast. Sie
werden in meinem Salon alle Grössen unseres
Landes versammelt finden. Ich selbst werde
Sie mit jedem bekannt machen. Sie sollen
einen glänzenden Eindruck mit nach Hause
nehmen, wenn Sie es nicht“ — und er lächelte
verbindlich — „vorziehen sollten, bei uns zu
bleiben.“
„Nein, nein,“ wehrte der Fremde ab, „ich
eigne mich zum Künstler absolut nicht; ich
bin ja . . . .“
„Ich weiss, was Sie sagen wollen. Sie wollen
einwenden, Sie seien ein anständiger Mensch.
Aber auch das macht nichts. Es werden auch
ganz anständige Menschen zu Künstlern: Sie
ändern sich eben.“
Und Arm in Arm traten sie in diesen glän-
zenden Salon der Kunst, wo sich die Besten
auf ihren Gebieten allwöchentlich einmal ganz
unter sich langweilten und ärgerten. Da sassen
sie beisammen, die gefeierten Lieblinge des
Publicums, und tranken Cafö und Absinth und
waren geistreich, wenn sie nicht bereits auf
jener Höhe der Kunst standen, wo man das
nicht mehr ist.
„Sehen Sie diese Dame,“ sagte Wolfhart
Wolf zu seinem Gaste, indem er auf eine reich
gekleidete Frau hinwies, mit einer blendenden
Gestalt und einem verwelkten Gesichte: „Sie
ist aus Ihrer Vaterstadt Berlin. Sie war schon
ein paar Jahre verheiratet mit einem kleinen
Beamten, der sie sehr geliebt haben soll, als
sie eines Tages ihr Talent entdeckte. Ein junger,
sehr begabter Liebhaber machte sie darauf auf-
merksam. Sie riss sich mit blutendem Herzen
von ihrem Gatten los . . .“
„Das heisst, sie ging mit dem Comödianten
durch — sagt man in Berlin.“
„Wie Sie wollen: Sie hat eine hervorragende
Begabung. Insbesondere das Dirnenhafte in
manchen modernen Rollen weiss sie in einer
Weise zu verkörpern. Aber sehen Sie
dort den würdigen Herrn, mit den müden halb-
geschlossenen Augen?“
„Jawohl! Der jetzt eben gähnt?“
„Ja. Das ist der geistreichste Mann im
Land. Beobachten Sie ihn. Sie werden ihn
den Mund nicht öffnen sehen. Er verwirft sich
nicht; er gibt sich nicht aus. Seine Frau ist
der Melancholie nahe, so unausstehlich lang-
weilig und mürrisch ist er zu Hause. Aber
lesen Sie einmal eine Geschichte aus seiner
Feder, wenn er hie und da — alle 6 Monate
etwa — eine schreibt: Sie werden überrascht
sein von diesem feinen Geist.“
Der Gast warf einen sehnsüchtigen Blick
auf die Standuhr in Barock. Es war >/-8 Uhr.
Dieser geistreiche Mann war ja vielleicht eine
sehr interessante Persönlichkeit, aber er dachte
an seine kleine Frau und seine zwei süssen
Kinder dort drüben im Lande der Philister, die
nicht wissen würden, wo er bliebe. — Und so
fühlte er sich allgemach sehr unbehaglich und
sogar ein wenig zornig unter all’ diesen be-
rühmten Leuten, deren Verrücktheiten ihn doch
eigentlich gar nichts angingen.
Aber Wolfhart Wolf führte ihn weiter und
erläuterte ihm die Individualität eines jeden
seiner Gäste. Plötzlich machte er ihn auf einen
söhr schönen, geckenhaft gekleideten jungen
Mann aufmerksam, in einem Kreise bewundern-
der Damen.
„Wenn Sie länger bei uns wären,“ sagte der
Präsident „könnten Sie beobachten, dass dieser
reichbegabte junge Mann nie an zwei Tagen
im Monat dieselbe Cravatte trägt. Aber jede
Halsbinde, die er anlegt, ist ein Kunstwerk an
Farbe, Form und Colorit. Man kann sagen, er
habe die Cravatte, die bei uns bis vor kurzem
im Argen lag, künstlerisch ausgestaltet. Er soll
Unsummen ausgeben für seine Toilette. Aller-
dings ist es nicht sein Geld, sondern das seiner
Frau. Es ist dies eine Schwäche, ich gebe es
zu, aber bedeutende Menschen haben eben
solche Schwächen.“
„Und auf welchem Kunstgebiete ist der junge
Mann sonst noch thätig?“
, Wie so viele hochbegabte Naturen hat er
sich noch nicht für ein bestimmtes Kunstgebiet
entschieden. Er hat sich in der realistischen
Novelle versucht, aber ich muthmasse, dass er
zur Malerei hinneigt.“
Einem oder dem andern stellte der Präsident
seinen Gast auch vor. Sie alle waren anfäng-
lich sehr liebenswürdig, solange sie von sich
und ihren Werken sprachen. Wenn aber dann
der anständige Mensch sie bescheiden darauf
aufmerksam machte, dass er eigentlich Ma-
schineningenieur sei und der Kunst ziemlich
ferne stehe, wurden sie plötzlich beleidigend
kühl, bis auf einmal jenes verächtlich ironische
Lächeln auf ihren Lippen erschien, das der
Fremde zum erstenmal an Wolfhart Wolfs Haus-
knecht beobachtet hatte.
Und als die grosse Standuhr 8 schlug, da
wusste diese ganze Gesellschaft, dass der Ein-
dringling ein Mensch sei ohne jedes Talent.
Von diesem Augenblicke an war er Luft.
Aber in der Brust des anständigen Menschen
begann mit einemmale das verwundete Selbst-
gefühl sich zu regen. Er wusste ja ganz gut,
dass ihm die 100 Namen der Berühmtheiten
des letzten Quartals so fremd waren, wie deren
Eigenart. Aber durfte deshalb dieses verluderte
Künstlergesindel hier mit Verachtung auf ihn
herabschauen?! Er hatte nie ein Aphorisma
geprägt, niemals das kleinste Lied componiert,
er hatte nie auf einer Liebhaberbühne agirt
und nie eine allegorische Zeichnung entworfen;
aber von Kindheit an hatte er gearbeitet, ge-
dacht und gelernt, und mit seines Kopfes Ar-
beit ernährte er Weib und Kind; auch hatte
er dort drüben im Lande der Dutzendmenschen,
eine neue sinnreiche Art der elektrischen Wei-
chenstellung erfunden, die in Eisenbahnkreisen
bedeutendes Aufsehen erregte. Und kurzum,
er sah gar nicht ein, warum dieser Hausknecht
ironisch auf ihn herablächeln durfte, wenn er
auch ein Theaterkritiker war.
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