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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 2.1897, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 49 (4. Dezember)
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Nr. 49

J UGEND

1897

JA i c JR, a it rh c k Julius Die% [München).

Und nun ging er hin und her zwischen den
Gruppen der verschiedenen Kunstinteressenten,
wie ein gereizter Löwe, entschlossen, so einem
Herrn von Talent noch schnell seine Meinung
zu sagen, eh’ er ging. Doch man schenkte
seiner Erregtheit nicht die geringste Beachtung.

Sein Herz begann vor Wuth zu tanzen.
Aber am meisten ärgerte ihn dieser junge Mann
mit der farbigen Cravatte und den müden, halb-
geschlossenen Augen.

Seit einer Viertelstunde schon stand dieser
Mensch mit verschränkten Armen, an einen
Candelaber gelehnt, und begleitete jede Be-
wegung des Fremden mit einem Lächeln, das
vielleicht spöttisch erschienen wäre, wäre es
nicht zu müde gewesen.

Mit prickelnden Fingerspitzen trat der In-
genieur auf diesen Gecken zu.

Entschuldigen Sie,“ begann er etwas un-
vermittelt mit gezwungener Selbstbeherrschung,
„worauf bilden Sie sich eigentlich soviel ein?“
Der Angeredete verzog keine Miene.

„Was wollen Sie?“ fragte er leise und zog
die Stirne in die Höhe ohne die Augen zu öffnen.

„Was ich will? Das werde ich Ihnen sagen:
Mein Name ist Heinrich Kraft — Maschinen-
ingenieur.“

„Maschineningenieur — das ist hübsch.“
„Was hübsch! Wer sind denn Sie?“

Der Jüngling gähnte. „Mein Herr,“ lispelte
er kaum verständlich, „ich bin für Ihre Schlosser-
spässe ein wenig zu müde . . .“

„Was müde! Das geht mich gar nichts an.
Ich habe mehr Ursache, müde zu sein, als Sie.
Verstehen Sie? Seit 20 Jahren habe ich noch
nicht aufgehört zu lernen. Wissen Sie über-
haupt, was das heisst: Lernen?“

„Ich hatte das nie nothwendig.“

„Und seit 12 Jahren verdiene ich mir meinen
Unterhalt selbst. Ich bin heute 27 Jahre alt.

Mein Herr, mit 23 Jahren schon erhielt ich
Weib und Kind.“

„In der That, das ist mir sehr interessant.“

„Wissen denn Sie, was das heisst: jemanden
erhalten? Wissen Sie überhaupt, was das heisst:
Arbeiten?“

Der Jüngling glättete seine schillernde Cra-
vatte.

„Mein Herr,“ sagte er degoutirt, „Sie lang-
weilen mich.“

Aber der anständige Mensch redete sich
immer mehr in Eifer. Schon sprach er so
laut, dass man ihn im ganzen Saale hörte.
Und mit einemmale interessirte er die ganze
gelangweilte Gesellschaft. Aus allen Winkeln
kamen sie herangekrochen und schaarten sich
um den köstlich entrüsteten Ingenieur, all diese
nervösen Talente, gierig nach einem neuen
Nervenkitzel, und jeder im Herzen entschlossen,
dieses interessante Subject zu beobachten und
womöglich künstlerisch zu verwerthen.

„Nein,“ fuhr der Eindringling erbittert fort,
„Sie haben keine Idee davon, was es heisst:
Arbeiten. Sie wissen überhaupt nichts, Sie
können nichts, Sie sind nichts. Denn Sie haben
Talent!“

„Allerdings.“

„Ja, allerdings. — Daher wissen Sie auch
nicht, was das heutzutage heisst, Talent haben.
Das heisst, in der angenehmen ökonomischen
Lage sein, von Jugend auf allen seinen Schrullen
nachhängen zu können, das heisst, alle seine
Marotten und fixen Ideen grossziehen, bis sie
zu einer Eigenart verwachsen; das heisst, zu
faul sein zu ernster Arbeit, das heisst, zu ein-
gebildet sein zum fieissigen Studiren, das heisst,
zu schwach sein, den Lockungen der Vergnüg-
ungen zu widerstehen, das heisst, zu herzlos
sein, um für einen anderen zu leben.“

„Eine Operettenfigur!“ jubelte ein Librettist.

„Ja, sehen Sie, das ist das Talent von heute,
das ist das Talent im Lande der Talente: Es
ist eine Ausrede, eine faule, nichtsnutzige gleiss
neidsche Ausrede! Sie können nichts lernen,
denn Sie haben Talent, Sie können nicht er-
werben: denn Sie sind zu Besserem geboren,
Sie verludern ihre Nächte, Sie verprassen das
Geld Ihrer Familie: denn Sie sind ein Künst-
ler. Sie verführen unsere Mädchen, Sie zer-
stören das Glück unserer Ehen: denn Sie
haben Talent. Sie machen Schulden bei Ihren
Freunden und bezahlen sie nicht: denn Sie
sind eine Individualität. Sie sind arrogant
gegen anständige Menschen: denn Sie sind be-
gabt. Sie verlassen Mann und Kind, weil Sie
jemand darauf aufmerksam macht, dass Sie
vorzüglich dazu geeignet sind, das Dirnen-
hafte gewisser Rollen zu verkörpern, Sie quälen
die Ihrigen mit Ihren Launen halb zu Tode,
weil Sie einmal im Jahr eine Geschichte er-
finden, über die heitere Leute lachen können.
Und Sie heirathen ein reiches Mädchen, nach-
dem Sie hundert arme betrogen, um sich das
Geld zu verschaffen, Ihren Cravatten oder ande-
ren ästhetischen Neigungen leben zu können.“
„Er ist einzig!“ kicherte eine Naive.

Aber der Entrüstete schöpfte noch einmal
Athen.

„Aber, so frage ich,“ fuhr er fort, „wie
ist es Ihnen möglich, den Simpeln Bürger auf
eine so niederträchtige Art zu betrügen und zu
brandschatzen? Das ist Ihnen möglich, weil
Sie sich hinter einem Ideal verstecken, das
wir ehren, weil Sie sich vor dem dummen
Pöbel als Ritter vom Geiste costümiren und
weil der dumme Pöbel an die Costüme glaubt.

In früheren Zeiten begegnete man.“

„Jetzt wird er historisch !“ rief der Heraus-
geber eines Witzblattes.

„jawohl, mein werther Herr, — begegnete

.J

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